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Reisebericht: Radreise rund um den Golf von Finnland

geschrieben von Carsten Okkens (2013)

„Per Rad rund um den Golf von Finnland“ – so oder so ähnlich sollte der Titel einer neuen individuellen Radreise in unserem Programm heißen. Von Helsinki soll es über den Landweg nach St. Petersburg und von dort weiter nach Tallinn gehen. Im Selbstversuch machte sich Carsten Okkens, unserer Geschäftsführer und passionierter Radler im Team, auf. Eine spannende Reise ... und wohl eher etwas für geübte Radler. Aber eines steht fest: Die Tour hat es ins Programm geschafft!

1. Tag: Einschiffung in Travemünde

Zum Glück habe ich entgegen meiner Gewohnheiten schon alle meine Sachen am Vortag gepackt und das Rad beladen. So muss ich heute früh nur noch Kleinigkeiten ergänzen. Eigentlich wollte ich einigermaßen minimalistisch packen, komme beim Anheben des Rades aber zur Erkenntnis, dass ich das Ziel irgendwie verfehlt habe. Dabei habe ich hinten nur die kleinen Taschen am Gepäckträger, eine Satteltasche, in der neben den Regensachen, dem Werkzeug, einem Ersatzschlauch noch ein paar Schuhe Platz finden sowie eine Lenkertasche mit Kamera, Geldbörse und ein wenig Gedöns am Rad. Auf dem Gepäckträger klemmt noch ein leichter und faltbar Ersatzreifen. Man weiß ja nie. Sicher habe ich trotz sparsamer Auswahl wieder einiges Überflüssiges dabei. Macht ja nichts, ich bin ja erst 50. Ich lerne also noch.
So bleibt jedenfalls noch Zeit, meine Kolleginnen und Kollegen mit meiner Anwesenheit im Büro zu überraschen. Die Finnlines-Fähre legt erst mitten in der Nacht in Travemünde ab, und so reicht es, wenn ich um 20 Uhr den Zug ab Hamburg Hbf nehme.
Am Skandinavienkai in Travemünde angekommen bleibt noch ein wenig Zeit für eine sündige Currywurst mit Pommes. Das runzelige Exemplar ist zwar keine wirkliche Sünde wert, aber was anderes gibt‘s nicht mehr. Kurz nach 23 Uhr geht es dann endlich an Bord. Meine Außenkabine ist geräumig und angenehm. Ein Gute-Nacht-Bierchen an Deck und dann ab in die Koje.

2. Tag: Auf See

Es könnte nicht schöner sein! Die See ist ruhig und vom Wind nur leicht gekräuselt. Außendecks weht eine schöne Brise und die Sonne wird nur dann und wann von zarten Wölckchen verschattet. So ein kompletter Seetag lässt mich gemütlich starten. Statt eines frühen Frühstücks genieße ich einen späten Brunch, um mir dann an Deck einen Sonnenstuhl zu schnappen. Ok, so richtig warm ist es nicht und ich muss mich schon ein wenig einmummeln.
An Bord sind größtenteils Finnen (viele Motorräder) und auch eine gute Anzahl russischer Passagiere. Man merkt, dass die Saison dem Ende zugeht. Deutsche sind nur wenige auf dem Schiff. Soweit ich beim Einschiffen sehen konnte, bin ich der einzige Radfahrer an Bord.
Interessant finde ich den Kleidungsstil der russischen Damen: Pflegen sie sonst ein außerordentlich elegantes Outfit, so kleiden sie sich heute – zumindest beim Brunch/Frühstück – recht leger und bequem in Trainingsanzügen. Auch das Make-up scheint noch warten zu müssen.

3. Tag: Vuosaari – Hamina

Die Ankunft in Helsinki Vuosaari erfolgt planmäßig um 8 Uhr. Damit ich noch etwas vom Frühstück habe, heißt es früh aufzustehen. Im Trott der Überfahrt vergisst man gern, dass auf den Finnlines-Fähren finnische Zeit gilt. Da die Mobiltelefone sich unterwegs immer nur in das nächste verfügbare Netz einloggen (DK, SE) heißt es Obacht geben und umdenken. Ich habe es zum Glück nicht vergessen ...
Bei der Ausfahrt aus dem Hafen folge ich dem vorher eingegebenen Kurs im Navi, der mir helfen soll, möglichst auf ruhigen Nebenstrecken zu bleiben. Aber bekanntlich kommt es immer anders als man denkt. Unerwartet kreuze ich die "Hauptstraße" 170, die ich später sowieso nehmen muss. Da sie von einem guten Radweg begleitet wird, probiere ich es mal. Geht prima. Später endet der Radweg zwar, aber ein gut fahrbarer Seitenstreifen bleibt und der Verkehr ist recht spärlich.
Zunächst erreiche ich das Städtchen Poorvi. Außer einer recht modernen Brückenkonstruktion am kleinen Hafen kann ich dem Ort nicht so recht etwas abgewinnen. Aber ich wurde ja schon "gewarnt", dass finnische Städte oft recht zweckmäßig gestaltet sind. Umso überraschender ist nach gut 90 Kilometern das Städtchen Lovisa. Richtig hübsch hier, am Hafen lege ich erstmal eine kleine Mittagspause ein. Für ein Foto lehne ich mein Rad ganz schlau an einen Pfeiler. Gerade will ich etwas fotografieren, da kippt doch die ganze Fuhre in Richtung Wasser und ... zum Glück gibt es an der Mole noch einen tieferen Unterbau, sonst hätte ich wohl im Hafenbecken fischen gehen dürfen.
Bei Lovisa hört im Moment noch die parallel zur 170 laufende Autobahn auf, was man leider auch sofort am Verkehr merkt. Zudem gibt es durch den Weiterbau der Autobahn unterwegs diverse Baustellen. Unmöglich zu sagen, wie ich das Gewusel, das mich selbst verwirrt, hier für unsere Kunden beschreiben soll (denn diese Reise soll nächstes Jahr in unser Programm), zumal ja bald wieder alles anders aussieht ... mal sehen ...
Irgendwo bei Kotka bin ich dann völlig verloren. Die eingegebene Route des Navis habe ich schon längst verlassen. Ich versuche es mit ein paar lokalen Radwegzeichen. Die führen mich auf netten Wegen aus der Stadt, aber so richtig sicher bin ich mir nicht, zumal auch irgendwann der Sonnenuntergang droht. Auf dem Höhepunkt meiner Verunsicherung piepst mich mein Navi an, dass ich die Route verlassen hätte! Wunderbar, das bedeutet, ich war wieder auf der eingespeicherten Route und muss nur kurz dahin zurückkehren, wo der kleine Ratgeber mich abbiegen lassen wollte. Diesmal höre ich voll und ganz auf dich, mein kleiner Held!!!
Immer noch auf Nebenstrecken, jetzt teilweise auch mit gut fahrbarem Schotter, komme ich wieder auf die 170, die mich dann schnurstracks auf einem prima Radweg nach Hamina bringt. Auch Hamina ist eher schlicht als aufregend, aber es gibt einige hübsche alte Holzhäuser. Auffällig sind die im Auto umherstreifenden Jugendlichen. Man trifft sich Tür an Tür auf einem Parkplatz auf einen Plausch und braust dann in entgegengesetzten Richtungen wieder los.
Auch das Best Western Hotel Hamina ist recht zweckmäßig, aber mehr als in Ordnung. Ein Restaurant ist allerdings nicht leicht zu finden. Im Hotel gibt es nichts und ansonsten nur Pizzabuden. Am Ende finde ich einen urigen Pub, der auch Snacks serviert. Das soll reichen.
Habe ich schon erwähnt, dass alle – jungen – Finnen ausgezeichnet Englisch sprechen? Sehr komfortabel. Das liegt bestimmt auch am Fernsehen, das – wie in Holland oder auch Schweden – die Filme im O-Ton mit Untertiteln zeigt. Morgen geht's nach Russland, da sieht es dann sicher etwas anders aus ...

4. Tag: Hamina – Vyborg

Nachdem ich gefrühstückt und Joe Waugh (so heißt mein Rad, der Einfachheit halber nenne ich es künftig nur Joe) gesattelt habe, kurve ich noch ein wenig durch Hamina. Aus der Ferne sah ich am Vorabend einen Kirchturm und vielleicht gibt es da ja etwas Schönes. Und tatsächlich, ich finde einen Platz, der als Oktagon angelegt ist und auf den alle Straßen sternförmig zulaufen. Die hübschen Gebäude – teilweise in Holzbauweise, teilweise aus Stein – scheinen gut 100 Jahre alt zu sein. Mittelpunkt ist das Rathaus.
Kurz hinter Hamina zweigt eine Nebenstrecke ab und hier beginnt eine herrliche Strecke, die mich mit ihrem Auf und Ab auch ein wenig fordert. Egal! Dafür ist es genauso, wie ich mir Finnland immer vorgestellt habe. Herrlich duftende Wälder, bunte Häuschen und ziemlich ruhig. Leider ist der Spaß nach gut 40 km vorbei und ich erreiche wieder die Hauptstraße, die mich auf einem ordentlichen Radweg bis an die Grenze führt.
Ein bisschen aufgeregt bin ich ja immer noch, wenn ich nach Russland einreise. Man weiß ja nie so genau, wie es ablaufen wird. Denn da die Grenzer meist kein Englisch sprechen, sind die Anweisungen manchmal rätselhaft. Aber bevor sich jemand darüber aufregt, sei die Frage erlaubt, wie viele deutsche Grenzbeamte das denn können (Englisch sprechen). Von der Hamburger Polizei habe ich da zum Beispiel schon Drolliges gehört ...
Es sind eine ganze Menge Autos an der Grenze und sofort stürmen alle die Passkontrolle. Ich stelle mich an und siehe da, es geht ziemlich fix. Die freundliche Dame im Kabäuschen scheint im Akkord zu arbeiten. Sie reicht mir noch die auszufüllende Migrationskarte und schwupp, bin ich durch. Jetzt herrscht nur noch leichte Verwirrung wegen des Zolls. An den Zoll-Häuschen anstellen ist sinnlos, weil da die Autofahrer immer etwas länger brauchen. Ich suche einen herumlaufenden Grenzbeamten, der mich als armen Radfahrer, der angenehmer Weise des Schmuggels immer unverdächtig scheint, einfach durchwinkt. Die Rettung naht in weiblicher Befehlsgewalt und nachdem der korrekte Stempel in meinem Pass gefunden ist, darf ich durch. Heureka, ich bin in Russland!
So, jetzt nur noch schnell ein paar Euro in Rubel getauscht und ... sagte ich schon, dass man in Russland ohne Russisch-Kenntnisse nicht nur sprachlich weitgehend isoliert ist, sondern auch per Grenzübertritt zum Analphabeten wird? Die unmittelbar nach der Grenze folgende Tankstelle und der Getränke-Shop scheinen nicht die richtigen Adressen zu sein. Also fahre ich erst einmal weiter und schon bald sieht eine rote Leuchtschrift "44,5" so aus, als könnte es sich um einen Wechselkurs handeln. Ich also hinein und ... es sieht nach einem kleinen Supermarkt mit Hang zum Gedöns aus. Der Kassierer spricht natürlich ebenso wenig Englisch wie ich Russisch, aber das Wort "change" lässt ihn auf das Laufband tippen und mir deuten, dass ich richtig bin. Der Geldwechsel erfolgt ohne Beleg und deutlich aufgerundet – ich bekomme für meine 150 Euro nur Scheine, Kopeken keine. Aus dem draußen leuchtenden Wechselkurs errechne ich eine Bearbeitungsgebühr von 4 Euro-irgendwas. Aber ich habe das mit dem Ankauf und dem Verkauf wohl noch nie so richtig verstanden.
Bei der Fahrt nach Vyborg muss ich mir die einzig verfügbare Straße mit allen anderen teilen. Meist gibt es einen kleinen Seitenstreifen, der mir Schutz und Zuflucht verspricht. Am Anfang ist der Verkehr überschaubar, aber bald wird es schon deutlich mehr. Dicke Laster und rasende SUVs brausen an mir vorbei. Haben die russischen Lkw-Fahrer in Finnland noch höflich einen Bogen um mich gemacht, ist es nun mit diesen Freundlichkeiten vorbei. Im eigenen Lande ist halt der russische Lkw-Fahrer der Herr der Straße und nicht etwa der armselige Radlerwurm (irgendwas erinnert mich gerade an daheim ...). Es geht ewig geradeaus und der Straßenbelag fordert mir einige Konzentration ab, aber ich kann ein ganz gutes Tempo halten, denn wirklich spannend ist es hier nicht. Wald, Wald, Wald ... aber irgendwie anders als vorher in Finnland. Unzugänglicher, struppiger, abweisender.
Kurz vor Vyborg fällt mir auf, dass an den zurückliegenden 70 km Straße niemand wohnte. Nur Tankstellen und Cafés, aber kein einziges privates Wohnhaus und auch kein Dorf oder sonstiger Ort. Seltsam ...
Am Rande von Vyborg lenkt etwas meine Aufmerksamkeit auf sich! Es ist ein völlig verwilderter Friedhof, direkt an der Straße, nur durch einen Fußweg abgegrenzt. Grabsteine stehen krumm und schief, zertrümmert, überwuchert. Ich nehme an, dass es ein schwedischer oder finnischer Friedhof gewesen sein muss. Und tatsächlich entdecke ich schwedische Inschriften, keine finnischen, dafür aber deutsche. Es scheint in der ursprünglich schwedischen, später auch zu Finnland gehörenden Stadt also auch deutsche Gruppen gegeben zu haben. Der verwahrloste, der Gleichgültigkeit preisgegebene Ort wirkt bedrückend. Gleichzeitig freue ich mich, dass er überhaupt noch existiert und nicht eingeebnet wurde, wie so viele andere.
Bei der Einfahrt in die Stadt empfängt mich „leuchtend“ die Burg, die direkt vor der Altstadt auf einer Insel liegt. Vom Turm soll man einen tollen Blick auf die Altstadt haben und das Licht scheint perfekt. Beim Lösen des Tickets wird mir gleich klargemacht, dass ich Joe nicht in die Burg mitnehmen könne – das hatte ich ja auch gar nicht vor – und bekomme für ihn unmissverständlich einen Platz neben den Mülltüten zugewiesen. Ebenso unmissverständlich ist der Hinweis, dass die Kassendame nur noch bis 18.30 Uhr da ist. Danach wäre Joe unbewacht. Ein Blick auf mein sich automatisch der Zeitzone anpassendes Mobiltelefon zeigt mir "plenty of time"' da es ja erst kurz nach fünf ist. Als ich den Turm besteigen möchte und die kontrollierende, ältere Dame mir erklärt, dass sie mir noch fünf Minuten gibt, schwant mir etwas! Dieses Sch...-Mobiltelefon (sic!) hat sich noch nicht von finnischer Zeit auf die russische umgestellt, mir fehlt also eine volle Stunde!! Ich also im Sauseschritt, drei Stufen auf einmal nehmend auf den Turm und schnell Fotos von der wirklich tollen Aussicht machen. Schließlich will ich Joe nicht unbewacht am Zaun neben den Mülltüten wissen. Ich hatte ihn nämlich – um die Bewachungskompetenz der Kassendame mit dieser Geste nicht abzuwerten und sie nicht schlimmstenfalls sogar damit zu beleidigen – nicht angeschlossen. Mein Vertrauen wird belohnt, denn als ich etwas kurzatmig bei der Kasse ankomme, sind sowohl die Kassendame als auch Joe noch an Ort und Stelle.
Noch während meines Turmabstieges begegnen mir zwei junge Damen, die ich für Schwedinnen oder Finninnen halte. Sie haben die resolute "noch-fünf-Minuten-Dame" irgendwie bezirzt, um schnell noch einen Blick vom Turm zu erhaschen. Als ich mein Rad über die Brücke in Richtung Altstadt schiebe, sind Sie schon wieder da und sprechen mich auf Englisch an, wohin ich denn fahre. Schnell stellt sich heraus, dass die beiden Schwedinnen – oder Finninnen – aus Deutschland kommen und selbst ebenfalls auf Radtour sind. Seit vier Wochen sind sie bereits unterwegs und wollen noch in den kommenden drei Wochen bis ans Schwarze Meer. Ich ziehe innerlich meinen daheim gebliebenen Hut – den ich übrigens nie tragen darf, weil meine Frau ihn scheußlich findet – und erfahre, dass sie die erste russische Etappe nicht so toll fanden. Sie sind heute nämlich die gleiche Strecke gefahren wie ich und fanden sie nervig bis bedrohlich. Nach St. Petersburg fahren sie morgen deshalb lieber mit der Bahn. Die beiden Zelten und wir wünschen uns für die Weiterreise gegenseitig Glück.
Mein getreues Navi führt mich ohne Umwege zu meinem Hotel Druzba, das ich schon von Weitem auf der anderen Seite der kleinen Bucht erkenne. Ein moderner Bau, der vielleicht zu Beginn der 1980er-Jahre zu den Olympischen Spielen gebaut wurde. Könnte passen. Jedenfalls bietet es einen spannenden Mix aus Sowjet-Nostalgie und modernem Komfort. Die junge und hübsche Dame an der Rezeption gewährt Joe sogar Asyl im völlig leeren Gepäckraum. Auf meine krückenhaften Versuche, einige Worte auf Russisch zu sagen, reagiert sie ausgesprochen freundlich.
Anschließend bummele ich noch ein wenig durch die wirklich hübsche, wenn auch stellenweise mit reichlich Patina versehene Altstadt und finde ein nettes Lokal, in dem zwar die Speisekarte Englisch spricht, aber nicht die junge, recht schüchterne Bedienung. Aber dank der zweisprachigen Speisekarte werden wir uns schnell einig. Soljanka und Piwo sind immer eine sichere Bank!

5. Tag: Vyborg – Repino

Hm ... ein irgendwie durchwachsener Tag, der bei mir reichlich Unschlüssigkeit auslöst. Ist so eine Tour wirklich eine gute Idee für eine individuelle Radreise im Programm? Doch der Reihe nach.
Der Start in Vyborg ist problemlos und leicht zu finden und führt mich auch schnell auf die gewünschte Strecke nach Primorsk. Die Straße ist ordentlich, aber der Verkehr zunächst recht stark. Ich hoffe, dass er etwas weiter außerhalb nachlässt. Tut er dann auch, aber so richtig Spaß macht es mir noch nicht. Vielleicht liegt es auch daran, dass der Tag etwas grau ist und auch leicht frisch. Als ich nach gut 50 km in Primorsk ankomme, bricht der Himmel auf und die Sonne kommt durch. Der Ort ist sehr "modern" und scheint keine historischen Wurzeln zu haben. Vielleicht wurde er einmal für eine Fischerei-Kolchose gegründet? Muss ich mal prüfen. Im klassischen Sinne „schön“ ist Primorsk jedenfalls nicht. Ein Kirchturm lockt mich dann doch noch an und tatsächlich ist die Kirche bereits von 1904 und ihre Architektur finde ich recht originell. Als Kirche wird sie indes nicht mehr genutzt. Als was, bleibt mir aber verborgen.
Im Zentrum gibt es eine Veteranen-Gedenkstätte mit einer Kanone in der Mitte. Einige Schritte weiter das obligatorische Kriegsdenkmal mit vielen Gedenkplatten gefallener Soldaten. Alle waren so 20 bis 25 Jahre alt, als sie 1944 gefallen sind. Furchtbar. Wie viele junge Männer mussten für diesen sinnlosen Krieg ihre Leben, ihre Träume und ihre Pläne lassen.
In einem Café gönne ich mir eine kleine Pause. Das erhoffte Hotel (als Zwischenstation für unsere Reisegäste) kann ich leider nicht ausfindig machen. Auch die junge Dame im Café kann mir nicht weiterhelfen. Das muss ich zu Hause noch einmal prüfen.
Hinter Primorsk verläuft die Strecke küstennah und ist jetzt wirklich sehr schön. Der Verkehr ist nicht zu stark und die Landschaft erinnert mich über lange Zeit an die Kurische Nehrung. Und es geht mal wieder ganz kräftig auf und ab. Hinter der nächsten Ortschaft nimmt der Verkehr wieder deutlich zu, bis er bei der Einfahrt zum Stadtgebiet St. Petersburgs (die eigentliche Stadt beginnt hier längst noch nicht) ziemlich anschwillt. Zum Glück tut sich jetzt ein Radweg auf, der mich auch durchgehend zu meinem Zielort Repino begleitet. Da ich jetzt in die Seebäder vor St. Petersburg komme, erhoffe ich mir, dass so eine Art Promenade am Wasser entlang führt. Stattdessen führen immer nur hin und wieder Stichzugänge zum Wasser. Viele Parks säumen die Route und zwischen Zelenogorsk und Repino liegen einige schöne Restaurants am Strand. So richtige Ortsstrukturen eines Seebades erkenne ich aber nirgends. Auch nicht bei meiner Ankunft in Repino.
Für mich ist eine Unterkunft in einem Pensionat gebucht. Als mein Navi per Fanfare verkündet, dass ich am Ziel bin, stehe ich auf einer Minikreuzung im Grünen. Nach etwas Suchen finde ich ein wenig vertrauenserweckendes Gebäude, das anscheinend zur weit verstreuten Anlage gehört. Ich verstehe, dass die Dame mich an ein Haus Baltika verweist. Das erweist sich als waschechtes Hotel und ich befürchte schon, dass sie mich einfach weggeschickt hat. Nach einigen Irrungen und Wirrungen (selbstverständlich spricht man auch im Hotel genauso wenig Englisch wie ich Russisch) stellt sich heraus, dass das Hotel den Check-in für das Pensionat macht. Wie von Zauberhand taucht ein Fax mit meinem Namen auf. Unfassbares Glück!! Nun werde ich per Handzeichen zu einem anderen Gebäude geschickt und gleich der erste Versuch erweist sich als Treffer. Die Anlage sieht übrigens stellenweise so aus, als hätte sie schon den einen oder anderen Treffer einstecken müssen. Ein Gebäudekomplex halb verwest sozusagen.
Am Check-in in meinem Pensionats-Korpus Nr. 2 hilft mir dann meine eben im Hotel frisch ausgedruckte Gästekarte nur bedingt weiter. Ich verstehe einfach nicht, was die freundliche Dame von mir wissen möchte. Rettungs-Joker Nr. 1 ist fällig. Ich rufe meine Frau an – sie spricht nahezu perfekt Russisch – damit sie am Telefon für mich übersetzt. Ergebnis: Die Gute wollte nur meinen Namen wissen (der steht nämlich nicht auf der frisch erworbenen Gästekarte). Und ich habe es einfach nicht verstanden ...
Mein Zimmer ähnelt dem Gebäude, das seit dem geschätzten Neubau in den Siebzigern keine echte Grundrenovierung erlebt haben dürfte. Erinnert mich sehr an einige Quartiere im Baltikum in den Neunzigern. Das es so etwas noch gibt ...
Zum Abendessen dann ab ins Café des Hotels. Die hübsche, leicht gestrenge junge Dame am Tresen spricht wiederum ebensoviel Englisch wie ich Russisch, aber wir bekommen es mit dem Finger auf der Speisekarte irgendwie hin. Ende gut, alles gut. So habe ich heute doch noch ein Bett bekommen (ich hatte Zwischendurch ernste Zweifel) und muss auch nicht hungrig hinein.
Dennoch, als Resümee des Tages bleibt, dass man so eine Tour nur für "Spezialisten" anbieten kann, die auch stärkeren Verkehr nicht scheuen. Für den Liebhaber klassischer Radtouren ist das wohl eine Zumutung.

6. Tag: Repino – St. Petersburg

Der große Tag ist da. Heute geht es nach St. Petersburg! Aber zuerst ans Frühstück. Mein bisheriger Eindruck von meinem Pensionat – bescheiden aber ordentlich – lässt ein karges Mahl erwarten. Aber wo gibt es Frühstück? Der Pensionatskomplex hat viele, recht weit auseinanderliegende Gebäude. Aber meine Frage an der Rezeption ist wohl verständlich und so werde ich wieder an das Hotel Baltika verwiesen. Aber wo denn da? Am Vorabend hatte ich zwar das Restaurant gesehen, aber das wäre für so ein großes Hotel und die umliegenden Pensionatsgäste viel zu klein. Na, da bin ich mal gespannt und laufe einfach den anderen Gästen hinterher. Das funktioniert bei der Nahrungsaufnahme immer, und siehe da, im zweiten Stock (bei uns wäre das der erste, da in Russland das Erdgeschoss schon der erste Stock ist) liegt der Speisesaal. Das Ambiente – inklusive Begleitmusik aus den Lautsprechern – wird in den 1970iger-Jahren kaum anders gewesen sein. Sehr zweckmäßig und reichlich Kantinen-Atmosphäre. Aber ein sehr üppiges, auf den russischen Geschmack abgestimmtes Buffet macht mich neugierig. Es gibt allerlei Leckereien, besonders die Pfannkuchen (Blini) sind nach meinem Geschmack. Viele essen sie mit einer undefinierbaren Sauce. Das musste ich natürlich nachahmen. Süß, lecker.
Nachdem ich das Frühstück mit reichlich gutem Kaffee genossen habe, mache ich mich erst noch auf die Suche nach dem Bahnhof, falls mal jemand mit der Bahn nach St. Petersburg fahren möchte. Nun weiß ich wenigstens, wo er ist. Ich will natürlich mit dem Rad nach St. Petersburg und decke mich im Supermarkt kurz noch etwas für die Fahrt ein.
Wie erhofft verläuft die Strecke parallel zur Straße auf einem ordentlichen Radweg , bis ... ja, bis der auf einmal weg ist. Aber es bleibt noch rechts der Leitplanke Platz für einen leichten Slalomlauf. Doch bei einer Art Autobahnkreuz für den Abbieger nach Kronstadt ist dann erstmal Schluss.
Nach etwas Suchen bin ich wieder in der Spur und ... hoppla! Auf einmal schwenkt die Straße auf einer Hochbrücke weg und ich stehe unten inmitten kleinster Straßen. Ok, Nase angeschaltet und ihr gefolgt. Klappt zuerst auch ganz gut aber dann – kurz vor Verwirrung – kommt „Meister GPS“ ins Spiel und zeigt den vor mir liegenden Waldpfad als wirklich existent (denn erst die Anzeige auf diesem technischen Wunderwerk überzeugt mich, dass es sich nicht um eine Fatamorgana handelt) und so folge ich ihm. Mal Wald, mal dicht am Schilf, aber immer schmal und manchmal mit Trial-ähnlichen Aufgaben komme ich ruhig (äußerlich, weil kein Verkehr und innerlich weil GPS-versichert) voran.
Direkt vor dem Ortschild "Sankt Petersburg" werde ich wieder auf die Straße gespült. Zum Glück gibt es wieder einen Radweg und St. Petersburg empfängt mich von seiner modernsten Seite. Riesige moderne Wohnhäuser säumen den Weg, Parkanlagen und überdimensioniert wirkende Einkaufstempel. Ganz schlau hatte ich mir ausgedacht, über die mit Parks überzogenen Newa-Inseln in das Zentrum zu fahren. Aber Pustekuchen! Die Brücken sind "bewacht" und Radfahrer dürfen da nicht hin. Fühle mich diskriminiert (wie zu Hause, also alles wie immer) und fahre leicht angeschmollt an der Hauptstraße weiter.
Aber der Radweg ist prima und so komme ich bald auf die Petrograder Seite. Die Entscheidung zwischen mörderisch wirkendem Verkehr (inzwischen weiß ich, die tun nix, die rasen nur) und Fußgängerslalom fällt mir hier nicht leicht. Ich wähle mal so, mal so.
Und dann erreiche ich die Peter und Paul Festung! Die Petersburger nutzen sie zum Flanieren und sogar einen Strand gibt es hier! Von diesem Strand blickt man direkt herüber zur Eremitage und die angrenzenden Paläste. Was für ein Ausblick! Und was alles auf der Newa unterwegs ist! Ohne meine Position zu wechseln, entdecke ich auf einen Schlag 21 Schiffe und Boote. Ein Trupp mit diesen "Wassermotorrädern" (wie heißen die gleich noch?) hat sich darauf spezialisiert, den Bereich vor der Ampel an der Eremitage mit Fontänen zu überfluten. Sie fahren dann so schnelle und scharfe Kurven, dass man wirklich patschnass wird, wenn man dort zufällig steht. Und das, obwohl es wirklich viele Meter von der Newa bis über die Ufermauer sind. Respekt! Natürlich nur, solange ICH nicht nass werde. Ganz bange schaue ich aufs Wasser und hoffe, dass diese vermaledeite Ampel endlich Grün zeigt, bevor der nächste "Nassmacher" angerauscht kommt. Glück gehabt! Gerade noch geschafft ...
Nun aber zum Hotel, das zum Glück nicht weit ist und mich freundlich empfängt. Hier arbeiten Studenten, die hervorragend Englisch sprechen. Ich fühle mich sogleich aus meiner sprachlichen Isolation gerissen und plaudere wahrscheinlich zuviel ...
Der Tag war schön! Abwechslungsreiches Fahren, ein Bombenwetter und eine wirklich schöne Stadt, für die sich manche Schinderei gelohnt hat! Morgen geht es auf eine Stadtrundfahrt (welche Uhrzeit hatte ich noch abgemacht?) und hinterher nach Zarskoje Selo, zum Katharinenpalast mit dem Bernsteinzimmer. Der Tag kann kommen!

7. Tag: St. Petersburg

Heute ist ein radelfreier Tag und ich lasse mir auf einer Führung St. Petersburg zeigen. Pünktlich um 10 Uhr erscheint meine Führerin E. im Hotel und wir starten mit unserem Fahrer J. in einem bequemen Toyota Camry. Schnell wird mir nur allzu deutlich bewusst, dass ich viel zu kurz hier bin. Wir streifen die wichtigsten Punkte, aber ausführliche Innenbesichtigungen müssen bis zum nächsten Besuch warten.

Über den pompös-eleganten Nevsky Prospekt steuern wir auf die weithin sichtbare – aber leider wegen Renovierungsarbeiten verhüllte – Admiralität zu. Hier entstand einst die erste Werft Russlands. Unser erster Fotostopp ist die beeindruckende Isaaks-Katedrale. Weitere Stationen sind die beiden Rostra-Türme vor der Börse, die einst als Leuchttürme dienten (hier befand sich einst der Hafen).
Das bescheidene Haus des Stadtgründers Peters des Großen, der Panzerkreuzer Aurora, das Smolny-Kloster, die Eremitage mit der beeindruckenden Siegessäule (sie steht allein durch ihr eigenes Gewicht) und ach, ich bekomme kaum noch alles zusammen. Jedenfalls, all das sehe ich. Die Blutskirche mit ihren unglaublichen Mosaiken schauen wir uns von innen an.
Eine kleine Pause gönnen wir uns im Café Stolle, wo man leckere Piroggen in allen Varianten anbietet. Ich entscheide mich für eine schmackhafte Variante mit Lachsfüllung.
Anschließend geht es zum etwas außerhalb von St. Petersburg gelegenen Dorf Pushkin (oder Tsarskoje Selo = Zarendorf, wie es früher hieß). Hier steht der berühmte Katharinenpalast, den fast jeder von Bildern kennt.
Die Farben Blau, Weiß und Gold strahlen in der Sonne um die Wette. Besonders freue ich mich auf eine Innenbesichtigung und tatsächlich schnappen die Sinne von Gold, Verzierungen, Deckengemälden, Dekorationen und der schieren Größe fast über. Überwältigend! Ein Highlight ist das rekonstruierte Bernsteinzimmer! Das Original gilt nach der Verschleppung durch die Wehrmacht seit den Wirren des Kriegsendes als verschollen. Letzte bekannte Station war Königsberg, das heutige Kaliningrad. Leider darf man ausgerechnet hier nicht fotografieren. So kann ich mir all die filigranen Arbeiten einfach nur anschauen und die Eindrücke speichern. Aber auch alle anderen Räume sind spannend. Einige Wände sind nicht etwa tapeziert, sondern mit Seide bespannt, die eine kleine Moskauer Manufaktur nach Fotovorlagen herstellt.
Nach einem kleinen Spaziergang durch den Park fahren wir voller Eindrücke zurück und stoppen ein letztes Mal an der Tschesme-Kirche, die durch ihren Stil einer orientalischen Festung auffällt. Sie gehörte einst zum gleichnamigen, gegenüberliegenden Schloss, das aber kaum noch als solches zu erkennen ist.

Am Hotel dann Abschied von E. und J. und erstmal die Füße hochlegen.
Anschließend schlendere ich noch ein wenig entlang der Moika und treffe dabei auf ein Ehepaar aus Teheran – sie bitten um ein gemeinsames Foto. Ich habe noch nie irgendwo Touristen aus dem Iran getroffen!! Sehr nette Leute, die mich daran erinnern, dass ich gern einmal in den Iran reisen würde. Abseits der Politik muss es ein spannendes, schönes und freundliches Reiseland sein.
Nun sitze ich in einem Lokal und blicke beim Schreiben auf den lebhaften Nevsky Prospekt, der vor jungen Leuten in "Ausgeh-Uniform" nur so wimmelt. Es ist Samstagabend ...

8. Tag: St. Petersburg – Kingisepp

In der Nacht hat es ordentlich geregnet und sogar ein Gewitter war zu vernehmen. Morgens ist es bedeckt, aber zum Glück regnet es nicht mehr. Die Fahrt per Rad aus St. Petersburg heraus will ich mir ersparen und nehme stattdessen ein Meteor-Schnellboot, das mich in nur 50 Minuten nach Peterhof bringt. Die alten Raketa-Bootstypen haben schon reichlich Patina, sind aber sauschnell und irgendwie auch drollig. Da weht so ein wenig Sowjet-Luft mit und der Spritverbrauch soll auch Rekordverdächtig sein. Aber das Ticket kostet für einen Weg auch 650 Rubel. Nicht ganz billig ...
Ich hatte schon vorher erkundet, dass man das Fahrrad kostenlos mitnehmen kann. Prima! Mein Kollege Bernd orakelte schon, wie ich denn mit dem Rad durch den Park von Peterhof kommen wolle, da die Kassen schon direkt auf dem Anleger sind und von dort auch kein Weg um den Park herumführen würde. Wie recht er doch hat! Ein zur Hilfe gerufener Mitarbeiter sieht auf mein Rad, erkennt mich als Reisenden und nicht etwa als Tagesausflügler und meint, ich könne mit dem Rad durchgehen. Die Zusage kommt aber vom Kassenhäuschen nicht bis zu den Drehkreuzen und ihren "Bewachern" durch. Eine Dame weist mir den Weg zurück auf die Meteor, was ich entschieden ablehnte. Wozu bringt mich das Boot denn mit dem Rad hierher, wenn ich damit nicht mal den Steg verlassen kann? Ich muss versprechen, dass ich nur schiebe und nicht durch den Park fahre und werde durchgelassen.
Die Kaskaden, Fontänen und vergoldeten Statuen im Park von Peterhof sind weltberühmt und wirklich unfassbar schön. Den Palast spare ich mir, weil ich ja gestern schon im Katharinenpalast gewesen bin. Sie sollen sich ähneln.
Beim Fotografieren spricht mich ein Sicherheitsbeamter in Uniform an. Ich verstehe ihn natürlich nicht wirklich, aber es geht um mein Fahrrad. Ein Problem! Er spricht in sein Funkgerät und gibt mir zu verstehen, dass ich ruhig zu Ende fotografieren soll und er mich dann hinausbegleiten würde. Den eleganten Rausschmiss nehme ich gerne an, zumal alle Beteiligten wirklich sehr freundlich sind. So zeigt er mir einen Weg ohne Treppen zum Ausgang und ich erfahre währenddessen, dass er zwei Jahre als Soldat in Deutschland stationiert war. Wir verabschieden uns mit Handschlag, einem „Auf Wiedersehen“ von ihm und ein „Do Swidanja“ von mir.
Nun bin ich wieder auf Kurs und radle aus Peterhof heraus, meinem getreuen und programmierten GPS folgend. Die für längere Zeit angesteuerte P35 ist zwar eine Nebenstraße, der Verkehr will sich aber zunächst nicht so anfühlen.
Kurz darauf treffe ich die beiden jungen Radlerinnen aus Deutschland wieder, die ich bereits in Vyborg getroffen hatte. Sie sind tatsächlich mit dem Zug von Vyborg nach St. Petersburg gefahren und heute auch mit dem Zug nach Peterhof, damit sie sich – wie ich – die Ausfahrt aus St. Petersburg ersparen. Wir plauschen kurz und einigen uns auf eine getrennte Weiterfahrt, da wir – unausgesprochen – unterschiedliche Geschwindigkeiten vermuten. Vielleicht wollen sie auch einfach nicht so ein altes Fossil als Begleitung haben. Ist mir recht so.
Erst nach gut 60 km lässt der Verkehr spürbar nach, die Sonne bricht durch – es bleibt zunächst dennoch kühl – und es geht nicht mehr ganz so viel auf und ab. Richtig schön also! Nur der Straßenbelag fordert manchmal Slalomfahrten. So ca. 20 km vor meinem Tagesziel Kingisepp zieht der Verkehr wieder mächtig an, aber die Straße ist breit genug. Nicht perfekt, aber ok.
In Kingisepp finde ich mein Hotel in einem Industriegebiet und das verfallene Äußere lässt schlimmste Befürchtungen hochkommen. In touristisch nicht so belebten Orten sind die Hotels eben auch oft nicht so modern. Mein Fahrrad wird im Industriegebiet in den Tiefen einer Garage verstaut und über provisorische Treppen erreiche ich die dritte Etage des reichlich verschrabbelten Gebäudes. Und siehe da, hier ist es richtig nett. Alles ok, das Zimmer ist einfach, aber neu gemacht und sehr anständig.
Wohlan, dann erstmal geduscht. Im Bad steht so eine moderne Dusche mit Düsen von allen Seiten und vielen Knöpfen. Ich probiere alles aus: Licht geht in der Dusche an, Radio auch, ich finde die Senderwahl und die Lautstärkeregelung (kein Witz) und eine Lüftung, aber kein Wasser! Ich probiere alles Mögliche aus, immer wieder, aber nichts passiert und so muss ich mich wieder anziehen und an der Rezeption um Hilfe bitten, die mir auch gleich gewährt wird. Jetzt klappt alles. Wie kann man nur so ein beklopptes Teil in ein Hotelzimmer stellen, zumal alles an der Dusche von lausigster und wackeligster Qualität ist. Das Ding hält mit Sicherheit kein halbes Jahr durch. Dass ich nicht völlig blöde bin, kann ich an der Reaktion der hilfreichen Rezeptionsdame erkennen. Ich bin wohl nicht der Erste, der fragt ...
Auf der Suche nach einem Restaurant tappe ich gefühlt ewig durch das etwas düstere Industriegebiet und finde schließlich im Zentrum einen Irish Pub (!) mit Küche. Das habe ich in einem Städtchen wie diesem nicht erwartet. Zurück nehme ich mir wohl besser ein Taxi, denke ich. Nach einem viel zu üppigen Mahl und dem ein oder anderen Guinness (ich liebe es) gehe ich doch zu Fuß zurück. Himmel, ist das hier dunkel ...

9. Tag: Kingisepp – Toila

Nach meinem kurzen Lehrgang gestern Abend klappt es heute früh mit dem Duschen auf Anhieb. Auf meine Nachfrage an der Rezeption, wo denn das Frühstück serviert wird, führt mich die selbe Dame, die schon gestern bis spät abends an der Rezeption saß, in den Frühstückstraum ein Stockwerk tiefer. Sie spricht ein paar Worte Deutsch und ich glaube sie freut sich, diese an mir testen zu können. Es scheint, als kämen sehr selten ausländische Touristen in dieses Hotel (streng genommen, gibt es auch wenige touristische Gründe, in Kingisepp zu übernachten), die anderen Gäste scheinen Arbeiter zu sein, die hier vorübergehend an Projekten arbeiten.
Vor dem richtigen Start stoppe ich noch kurz am Supermarkt, um Wasser, Obst und etwas Süßes zu besorgen. Auch hier wieder entschlossen-freundliche Hilfestellung einer Mitarbeiterin, als ich zu dusselig bin, die Obstwaage zu bedienen.
Draußen – man glaubt es kaum – stehen die beiden tapferen Radlerinnen. Sie haben in einem kleinen Dorf übernachtet. Auf Nachfrage, wo man hier zelten könne, wurde ihnen vom befragten Ehepaar zur Übernachtung gleich das Sauna-Häuschen angeboten und Tomaten und Basilikum kamen ebenfalls gleich auf den Tisch. Nur verstehen konnten die beiden Radlerinnen das Ehepaar nicht, was die etwas energischere Frau mit lauterer und höherer Stimme zu lösen suchte. Dennoch verstanden sie natürlich nichts. Dann brachen die beiden sehr früh auf und haben schon 40 km in den Beinen, als sie nun wieder vor mir stehen.
Erfreut begrüßen wir uns und nach einem kleinen Plausch suchen die beiden – sie heißen übrigens Olga und Ulrike – ein Café für eine kurze Pause. Ich will aber los und so verabschieden wir uns zum dritten Mal.
Die gut 25 km zur estnischen Grenze fliege ich nur so dahin. Die Hauptstraße ist erwartungsgemäß stark befahren, bietet aber einen guten und breiten Seitenstreifen. Man wird bescheiden.
Schon früh leuchtet mir der weiße Turm der Hermannsfeste entgegen, die bereits auf der estnischen Seite des Grenzflusses Narva liegt. In der russischen Grenzstadt Ivangorod suche ich den Zugang zur Burg, die seit Jahrhunderten trotzig auf russischer Seite gegenüber der Hermannsfeste wacht. Außerdem suche ich noch eine Post, um meine bereits in St. Petersburg geschriebenen Postkarten noch auf russischem Boden einzuwerfen. Gar nicht so leicht, da die vertrauten Symbole am Postgebäude fehlen. Am Ende gelingt es doch und meine Postkarten nehmen, von einer freundlichen Dame am Schalter beklebt, ihren Weg nach Deutschland auf.
Draußen sitze ich gerade im Sattel, als Olga und Ulrike auftauchen. Sie fragen ob ich weiß, wo eine Post ist und ich kann triumphierend-wissend hinter mich zeigen. Selbstverständlich kann ich ihnen auch den Weg zur Burg beschreiben. Wir wünschen uns einen guten Grenzübertritt und es folgt Abschied Nummer vier.
Ich will jetzt meine letzten Rubel in Kaffee und Kuchen umsetzten und finde eine Art Kiosk, wo das fast klappt. Kaffee und Kuchen ja, aber Rubel sind immer noch einige da. Na, dann tausche ich die eben später an der Grenze um.
Hier am Kiosk treffe ich Alexander. Er ist ebenfalls mit dem Rad unterwegs, allerdings ohne Gepäck, da er hier arbeitet. Er bewundert mein Rad und spricht sogar Deutsch! Er hat in St. Petersburg Kartographie studiert und ist hier nun als Soldat stationiert. Ein Grenzübertritt nach Estland ist für ihn deshalb von Amts wegen tabu. Ein Handschlag, gegenseitige Glückwünsche und weiter geht‘s.
An der Grenze werde ich am Schlagbaum abgewiesen, da hier nur Autos durch dürfen. Ich muss den Weg für Fußgänger nehmen, wovon es hier reichlich gibt. Da sich Ivangorod und das estnische Narva direkt am Fluss gegenüberliegen, gibt es hier eben einen regen Grenzverkehr per Pedes.
Ich bin gerade im Gebäude, als ich vorne Ulrike an der Passkontrolle stehen sehe. Freudiges Winken und ich warte. Es geht aber recht fix, der Grenzverkehr zwischen Russland und der EU verläuft hier erstaunlich reibungslos.
Draußen, in EU-Estland, sitzen dann Olga und Ulrike auf einer Bank und halten gerade Picknick. Ich setze mich dazu und wir unterhalten uns erstmals nicht zwischen „Tür und Angel“. Für die beiden ist es bereits die dritte gemeinsame Radreise. Ihre erste Reise führte sie für sieben Wochen nach Polen und in das Baltikum. Es war für jede von ihnen damals die erste Radreise überhaupt. Dass sie heute schon recht routiniert sind, erkennt man an ihrer guten Ausstattung und dem – trotz Zelt und den zum Camping erforderlichen Utensilien – relativ knappen Gepäck. Beide studieren in Berlin Medizin und haben sich dort auch kennengelernt. Olga kommt aus Baden-Württemberg und Ulrike aus Mecklenburg-Vorpommern. Sozusagen die Maximal-Diagonale durch Deutschland. Ulrike hat im Rahmen des Studiums sogar gerade ein Jahr in Rumänien verbracht. Dorthin, nach Moldavien und in die Ukraine führte sie auch ihre zweite Radreise. Diese hier soll nun von Dänemark über Schweden, Finnland, Russland, Estland, Lettland und Litauen nach Polen und schließlich bis Odessa in der Ukraine führen. Respekt!
Ich will mir noch die Hermannsfeste ansehen und so folgt der Aufbruch und Abschied Nummer fünf. Die Burg präsentiert sich mir bei bestem Sonnenschein und die Kombination mit der gegenüberliegenden Burg Ivangorod ist sicher einzigartig und wunderbar anzuschauen.
Der weitere Weg soll mich zunächst zur Mündung der Narva bringen. Das ist sicher nicht nur schön zu fahren, sondern ich gehe auch der Hauptstraße M1 aus dem Weg. Dass ich mein GPS falsch programmiert habe, merke ich erst, als es mich zur M1 lotsen will. Mit etwas Mühe finde ich die Strecke entlang der Narva und fahre heute eben mal wieder nach Karte. 
Die Strecke ist ein Genuss! An der Narva-Mündung in Narva-Jöesuu werfe ich noch einen Blick auf den herrlichen Ostseestrand und weiter geht‘s. Nach den russischen Etappen empfinde ich das Fahren auf den estnischen Straßen als pure Freude. Das Wetter spielt immer noch prima mit, nur der Gegenwind ist teilweise stramm.
In der Industriestadt Sillamäe suche ich den Weg auf einer Nebenstrecke, damit ich hier nicht auf die M1 wechseln muss. Im Zentrum finde ich einen Maxima-Supermarkt (die litauische Kette ist also auch hier in Estland aktiv) und ... Olga und Ulrike. Gemeinsam machen wir uns auf die Suche nach der Nebenstrecke, die auch zum Europaradweg Nr. 1 gehört. Egal was wir versuchen, wir prallen immer an einem Zollgebiet ab. Anscheinend hat der für die neu eingerichtete Frachtlinie ins russische Ust-Luga gebildete Zollbereich die Radroute verschluckt. Also bleibt uns nur der Weg auf der M1. Wir spenden uns bei immer noch starkem Gegenwind abwechselnd Windschatten und kommen schließlich auf eine ruhige Nebenstrecke, die zwar zunächst unbefestigt und ab und zu auch ziemlich hoppeldipoppel ist, aber es fährt sich trotzdem gut.
So radeln wir gemeinsam bis Toila, wo mein Hotel wartet und die beiden den zum Hotel gehörenden Campingplatz aufsuchen. Großer und finaler Abschied Nummer ...???.... Ich habe den Überblick verloren. Die beiden fahren morgen südlich Richtung Tartu und ich westlich Richtung Tallinn.
Ich genieße den Ausblick aus meinem Zimmer im 8. Stock, kümmere mich kurz um meine Wäsche und genieße dann ein leckeres Abendessen. Die Küche ist hier im Toila SPA Hotel wirklich sehr gut.
Morgen geht es in de Lahemaa- Nationalpark.

10. Tag: Toila – Vihula

Die Sonne weckt mich mit wärmenden Strahlen in meinem Zimmer im 8. Stock. Und ich genieße ein üppiges Frühstück (nehme ich auf dieser Reise etwa zu?). Das Hotel ist jetzt in der Nebensaison nicht so stark ausgelastet und mir fällt auf, dass im Gegensatz zu früher anscheinend nicht mehr so viele Finnen hier sind. Bei meinem letzten Besuch vor einigen Jahren wimmelte es vor finnischen Kurgästen. Heute scheinen meist estnische und auch einige russische Gäste hier zu sein. Jedenfalls sehe ich auf dem Parkplatz kaum Autos mit finnischen Kennzeichen. Heute verkauft sich das Hotel auch mehr als SPA- Hotel denn als Kurhotel. So ändern sich die Zeiten ...
Direkt hinter dem Hotel startet meine Route. Eine wunderbare Straße, die weitgehend am Meer entlang führt und immer wieder tolle Ausblicke beschert. Und so bleibt es den ganzen Tag. Nur traumhaft schöne Strecken und ganz wenig Verkehr. Ich folge ausschließlich der sehr gut ausgeschilderten Radroute 1, die sich zwar weitgehend mit meinem GPS-Plan deckt, aber doch einige Überraschungen bereithält. Das sind dann zwar meist unbefestigte Straßen, aber die sind gut zu fahren und sie halten mich von der M1 fern, die ich so nur ein einziges Mal für ein kurzes Stück fahren muss. Und selbst dort ist der Verkehr überschaubar. Biegen die ganzen LKWs von Narva etwa schon in Kothla-Järve ab oder wo sind die alle geblieben?
Unterwegs schaue ich mir das ein oder andere an. Nichts Spektakuläres, aber trotzdem schön wie z.B. in Viru-Nigula der Kirchfriedhof mit wirklich uralten und vielen deutschen Gräbern. Oder Findlinge, die vor geschätzten 1.500 bis 2.500 Jahren graviert wurden. Von wem, wofür und warum, weiß niemand.
Hier in Viru-Nigula gönne ich mir auch eine kleine Pause und ein kleines Häuschen lockt mit einer Biertafel-Werbung. Drinnen findet sich eine Art improvisierte Küche mit Tresen und die Dame des Hauses kocht und brät gerade fleißig, für wen auch immer, denn ich bin der einzige Gast. Ich bekomme eine echte – wenn auch undefinierbare – „homemade estnisch-Soup", die im Emailletopf brodelt und mit einem ordentlichen Klacks Schmand auch tatsächlich sehr lecker ist.
Kurz vor der Zementstadt Kunda – hier ist vom Zementstaub alles mit einem leichten grauen Film überzogen – erblicke ich eine neue Cellulose-Fabrik. Gut so, die Leute brauchen schließlich Arbeit und Ertrag. Dass man von "hübscher Landschaft"  alleine nicht Leben kann sehen wir ja in Mecklenburg-Vorpommern.
Auch an der Burgruine Toolse stoppe ich mal wieder. Sie liegt so schön am Meer! Die beim letzten Mal entdeckten Versuche, hier so ein wenig Mittelalter-Brimborium und Eintrittsgeld zu etablieren, scheinen sich wieder zerschlagen zu haben. Auch der Nachbau eines Wikingerbootes ist inzwischen in Flammen aufgegangen. Jedenfalls liegen die verkohlten Reste in den Umrissen des ehemaligen Rumpfes.
Durch Wälder und kleine Dörflein erreiche ich den Lahemaa-Nationalpark und schließlich mein Hotel Vihula Manor. Mal sehen, ob ich der gebotenen Eleganz standhalten kann. Sehr vornehm verhält sich meine Dusche im Zimmer aber nicht. Ich muss hinterher erst mal das geflutete Bad wieder halbwegs trocken legen. Die Preise im Restaurant sind schon recht mutig, ich muss aber gestehen, dass alles wirklich sehr gut ist. Auch die Bedienung – die hier natürlich nur jobbt und im echten Leben in Tallinn studiert – ist sehr aufmerksam und gut. Durch den Preis von sechs Euro für die Wasserflasche im Zimmer bin ich schon leicht auf Krawall gebürstet, aber es gibt einfach nix zu meckern.
Ich glaube, ich nehme noch ein Bierchen in der Bar und dann geht's ins Bett.

11. Tag: Vihula – Palmse

Die beiden Gutsanlagen Vihula und Palmse liegen im Lahemaa-Nationalpark nur gut 10 km auseinander. Ein Quartierswechsel ist also eigentlich Unsinn, aber so kann ich in beiden Hotels mal wieder übernachten und mich auf den Stand der Dinge bringen. Palmse ist im Vergleich zu Vihula eher rustikal, aber ich mag es sehr gern. Aber ich will natürlich nicht direkt nach Palmse fahren, sondern ein wenig durch den Nationalpark radeln.
Zuerst lasse ich mir nach dem Frühstück von einer Mitarbeiterin die Anlage zeigen. Mein letzter Stand ist von 2008 und da waren noch nicht alle Gebäude fertig. Pool, SPA, neue Gebäude mit Zimmern ... alles ist wirklich sehr hübsch und elegant geworden. Im alten Pferdestall halten sie sogar Hühner und Kaninchen. Für Kinder natürlich, nicht für die Küche!
Ich komme erst etwas spät los, aber macht ja nichts. Ich habe heute ja nichts Großartiges vor. Zuerst möchte ich nach Altja, ein ehemaliges Fischdorf, wo einige alte Hütten gern als Fotomotiv dienen. Hier lernt man auf einer Tafel auch einiges über die vielen Findlinge, die an der Küste liegen und von der letzten Eiszeit angeschleppt wurden.
Als eine Gruppe mit unüberhörbarem Thüringer Dialekt auftaucht, mache ich mich wieder auf den Weg. Ich spreche kurz mit einer recht stabilen Dame und erfahre, dass sie als Gruppe eine 10-tägige Reise durch das Baltikum machen. Morgen geht's von Tallinn nach Hause. Auf meine Frage hin, wie es ihr denn gefällt, eiert sie ein wenig herum und meint, sie sei auch schon mal in Mecklenburg-Vorpommern gewesen. Da sähe es eigentlich recht ähnlich aus. Na, da kann man nichts machen. Ich wünsche ihr eine gute Heimfahrt und mache mich auf den Weg.
In Altja stoppe ich noch für einen Kaffee und treffe dabei auf ein radelndes Ehepaar aus Russland. Das hatte ich noch nie! Sie kommen aus St. Petersburg und sind für ein paar Tage nach Lahemaa gekommen und wollen noch nach Tallinn fahren. Von dort geht es dann mit dem Bus zurück nach St. Petersburg. Er ist Kunstfotograf und ich schaue mir nachher einmal seine Website an.
Anschließend fahre ich nach Vösu an den Strand. Ich wate ein wenig durch das flache Ostseewasser und döse dann am Strand ein (den ich übrigens für mich allein habe). Herrlich!!!
Als ich wieder zu mir komme ist es schon vier Uhr Nachmittags ... und ich will doch noch zum Gutshotel Sagadi. Also rauf auf's Rad und los geht‘s. Der Verkehr in Lahemaa ist immer noch dünn und so sind die Straßen zum Radfahren einfach wunderbar. In Sagadi mache ich ein paar Fotos und stärke mich mit einem warmen Schokoladenkuchen. Hmmmm ,... sehr lecker zubereitet.
Nun noch die letzten Kilometer bis zum Hotel in Palmse. Es stellt sich heraus, dass ich der einzige Gast bin! Hier ist irgendwie die Zeit stehen geblieben. Alles sieht aus wie auch schon vor sechs, zehn oder 13 Jahren. Irgendwie angenehm ...
Kurz vor Palmse fällt mir ein – für mich – neues Lokal auf. Dort kehre ich zum Essen ein. Ein deutsch-russisches Ehepaar hat sich hier niedergelassen, nachdem sie vorher zusammen 15 Jahre in St. Petersburg gearbeitet haben. Das war aber auch schon 2008. Ich war eben lange nicht hier. Leckere Küche, sehr nett und sehr gemütlich. Als ich im Dunkeln zurückfahre, ist es schon sehr frisch und Nebelbänke ziehen über die wirklich dunkle Straße. Kein Auto und kein Mensch weit und breit. Zum Glück ist es nicht weit.
Jetzt noch kurz geduscht und ab ins Bett ;-)

12. Tag: Palmse – Tallinn

Als einziger Gast bekomme ich ein üppiges Frühstück serviert. Bei der abschließenden Tasse Kaffee kommt die langjährige Mitarbeiterin T. ins Hotel (sie ist seit Anbeginn anno 1995 dabei) und wir klönen eine kleine Weile.
Da das Wetter mal wieder perfekt ist und das Licht natürlich ganz anders als gestern Abend, schleiche ich noch ein wenig fotografierend über das Anwesen. Das Hotel fechtet seit Jahren immer wieder Dispute mit der Verwaltung des Gutshauses aus, in dessen Areal das Hotel liegt (das Hotel befindet sich in der historischen Schnapsbrennerei des ehemaligen Gutes). Neueste Schote der Gutshaus-Verwaltung: Mann braucht streng genommen eine Eintrittskarte für das Gutsgelände, um an das Hotel zu kommen. Sehr kreativ. Ich bewege mich also quasi illegal auf dem Areal, sobald ich die Türschwelle des Hotels verlasse.  Mit fliegenden Gästen wäre das Problem vielleicht lösbar ...
Nun noch schnell im Pood (Laden) gegenüber Wasser und etwas Proviant kaufen und los geht's. Gleichzeitig startet hier eine Gruppe Esten, die anscheinend als Firmen-Event eine Radtour machen. Sie sind extra dafür heute früh im Hotel angereist. Die ersten haben sich schon im Pood mit Bier oder Vodka versorgt ;-). Deshalb haben sie wohl sicherheitshalber fast alle Warnwesten an. Ich hasse diese Dinger ja. Sie machen für meinen Geschmack den normal gekleideten Radfahrer daneben fast unsichtbar. Und die Aufmerksamkeit des Autofahrers wird auch nicht gerade geschärft. Wer nicht grell leuchtet, darf demnächst bestimmt ungestraft umgenietet werden.
Die Strecken sind mal wieder wunderbar. Mein erstes Ziel ist das Gut Kolga, das leider in keinem guten Zustand ist. Die riesige Anlage und das einst pompöse Gutshaus werden wohl gerade so vor dem Zusammenbruch bewahrt. Die eigentlichen Eigentümer haben anscheinend nicht das nötige Geld für umfassende Renovierungen und Restaurierungen. Das sonst im Gutshaus existierende kleine Lokal hat inzwischen auch geschlossen. Ebenso das kleine Gästehaus. Alles es wenig traurig.
Kurz vorher überholt ich noch eine weitere leuchtende Radgruppe. Scheint Mode zu sein (Radeln und leuchten).
Da diese Etappe in umgekehrter Richtung auch weitgehend den ersten beiden Abschnitten unserer individuellen Baltikum-Radreise entspricht, mache ich noch einen kleinen Umweg, damit ich die Anfahrt einer mir bisher unbekannten Unterkunft ausfindig machen kann. Da hatte schon so mancher Gast seine Probleme. Auf dem Weg entdecke ich noch eine schöne Alternative, schaue mir die Zimmer an, gönne mir gleich eine kleine Pause bei einer Soljanka (die hier Seljanka heißt) und lasse mich auf der Terrasse recht lautstark von aktuellen Disko-Hits bedröhnen. Na, es sind halt junge Leute und ein paar aktuelle Hits können mir ja auch nicht schaden.
Ansonsten folge ich heute wieder mit voller Absicht dem Radweg Nr. 1, da mir von einer Kundin gemeldet wurde, dass das bisher notwendige Kreuzen der Autobahn nicht mehr nötig sei, der Weg würde jetzt anders verlaufen. Recht hat sie! Unterwegs komme ich endlich mal am Jägala-Wasselfall vorbei, den ich bisher nur von Fotos kannte. Hier treffe ich auf Radgruppe Nr. 3, diesmal allerdings aus Russland. Sie sind als geführte Gruppe samt Begleitfahrzeug unterwegs. Wie ich später feststelle, sogar recht flott ...
Der neue Radweg führt mich tatsächlich auf tollen Routen nach Tallinn hinein. Am Fernsehturm treffe ich die russische Gruppe wieder, die auch sogleich den Turm stürmt. Von da oben gibt es bestimmt eine prima Aussicht, aber ich fahre weiter in die Stadt. Irgendwann komme ich bei Pirita direkt an die Küste und besuche gleich die eindrucksvolle Klosterruine des einstigen Birgittenklosters. Danach radele ich genussvoll direkt am Wasser auf die Stadt zu. Vorbei am Olympiahafen – er wurde für die von westlichen Staaten teilweise boykottierten Olympischen Spiele 1980 angelegt – habe ich immer die tolle Silhouette von Tallinns Altstadt im Blick. Und das völlig ungestört vom Autoverkehr, der sich gerade mit etwas Abstand parallel im Feierabendverkehr staut. Gleichzeitig staune ich, was sich alles an Schiffen im Hafen tummelt. Der TUI-Criuser "Mein Schiff" läuft gerade aus, kurz darauf die Viking-Fähre und auch die Tallink-Fähre, während eine neue Tallink-Fähre gerade im Anmarsch ist. Andere liegen noch im Hafen und ein weiteres Schiff ist schon zu weit draußen, als dass ich es erkennen könnte. Meine Kolleginnen M. und G. von unserer estnischen Agentur erzählten mir, dass am Montag ein Aida-Schiff kommt. Da sie die Landausflüge organisieren, haben die beiden auch am Wochenende noch allerhand vorzubereiten (die Schiffe melden die Teilnehmerzahl erst einen Tag vor Ankunft. Dann heißt es, Guides und Busse einteilen).
Das Abendlicht ist wunderbar und so gehe ich nicht gleich zum Hotel, sondern schiebe das Rad durch die Altstadt, um noch ein paar Fotos zu machen. Die Tallinner Altstadt ist einfach sensationell! Und auf dem Rathausplatz scheint jedes Lokal sehr gut besucht.
Zuletzt suche ich dann mein Hotel am Rande der Altstadt auf und bleibe zum Essen auch gleich da. Nach dem Duschen und dem täglichen Wäschewaschen (mein gern in Kauf genommener Tribut an mein minimalistisches Gepäck) habe ich keine Lust mehr, loszuziehen.
So muss es der bayrische (!) Keller im Hotel tun. Als die nicht unattraktive Bedienung mich anspricht, zucke ich richtig zusammen. Eine dröhnende Stimme wie ein Kerl nach jahrzehntelangem Tabak- und Whisky-Genuss. Passt irgendwie nicht zusammen. Oder ist das vielleicht gar keine ... neeee, kann nicht sein! Wir sind ja in Estland und nicht in Thailand!

13. Tag: Tallinn