Reisebericht: Radreise von Klaipeda nach Danzig
geschrieben von Carsten Okkens (2012)
Gigantische Dünenlandschaften auf der Kurischen Nehrung, einsame Alleen im ehemaligen Ostpreußen und die weitläufige Ostseeküste in Polen – die Landschaften des Baltikums, des Kaliningrader Gebietes und Polens sind ein wunderbares Terrain für eine Radreise. Nicht ohne Grund zählt die Region seit vielen Jahren zu unseren liebsten Reisezielen.
Zeit, unsere Radreisen wieder einmal genauer unter die Lupe zu nehmen ... im Selbstversuch. Unser Geschäftsführer Carsten Okkens – der Radler im Team von Schnieder Reisen – trat selbst in die Pedale und berichtet von seinen Reiseerlebnissen zwischen Klaipeda und Danzig.
1. Tag Hamburg - Kiel
Auf der Fahrt zum Hauptbahnhof wird es natürlich mal wieder knapp. Aber ich wähne meinen IC2000 um 10:15 Uhr auf Gleis 11a/b sicher im Griff. Nichts Böses ahnend lese ich nach einigem Warten auf dem Bahnsteig, dass dort erst in 40 Minuten ein Zug nach Stuttgart erwartet würde. Drei Minuten vor meiner geplanten Abfahrt also wieder nach oben und den richtigen Zug suchen. Doch Fehlanzeige! Keine Anzeige, keine Ansage! Also schnell den bereit stehenden Regionalzug um 10.20 Uhr nach Kiel geentert. Besser als nix. Bin wohl zu doof zum Zugfahren. Oder sollte doch die Bahn ...? Jedenfalls musste unser Zug unterwegs warten, weil der verspätete IC nach Kiel überholen musste ...
In Kiel nur gut zehn Minuten zur Schwentine-Fähre, die mich direkt zum Ostuferhafen (Dietrichsdorf) bringt. Einchecken und Einschiffen und los geht es nach Klaipeda – 22 Stunden dauert die Fahrt. Ich freue mich schon auf ein litauisches Bierchen an Bord!
Auch eine Gruppe mit Gästen von uns ist mit an Bord und so gibt es den ein oder anderen netten Schwatz. Ein sehr netter Kunde englischer Herkunft mit wunderbarem Akzent, versteht aus meiner Erzählung über lackierte Möbel (in unserer Küche) "lackierter Müll". Nach einigen Stutzern ist das Gebrüll hemmungslos :-).
Schöne ruhige Überfahrt.
2. Tag: Klaipeda – Priekule – Klaipeda
Die Etappe von Priekule nach Klaipeda auf der Radroute R10 ist teilweise nicht mehr befahrbar und so muss ein neuer Weg erkundet werden.
Gleich ab Hafen geht es auf eine Schotterpiste der übleren Sorte (leider alternativlos), aber bald darauf wird es besser. An markanten Stellen hänge ich Kofferanhänger auf, damit unsere Kunden die Abzweigungen gut erkennen können. Am Ende ist alles geschafft und in Priekule gönne ich mir leckere Kedainiu Blinai (gefüllte Kartoffelpuffer) und ein Bierchen. Zur Probe meiner Markierungen darf ich den gleichen Weg zurückfahren. Klappt prima.
Und ich muss nach meinem abendlichen Altstadt-Rundgang sagen, Klaipeda alias Memel hat sich toll gemausert und herausgeputzt.
Tagesstrecke: 66 km
3. Tag: Klaipeda – Nida
Am Vormittag möchte ich noch ein wenig die Altstadt von Klaipeda erkunden. Wie ich schon am Vortag bemerkte, hat sich das historische Zentrum schön herausgeputzt. In der Friedrich-Passage (die heißt wirklich so, bzw. "Friedricho Pasazas") kann man prima schlemmen und direkt einen Besuch im Schmiedemuseum unternehmen. Schnell noch an der alten Post vorbei zum Theaterplatz, der von vielen Gästen besucht wird, weil hier der Ännchen-von-Tharau-Brunnen steht. Zur Zeit wird das alte Theatergebäude umgestaltet und der Bauzaun zeigt spannende historische Motive aus dem alten Memel.
Am Fluss Dane sind die alten Speicher als Restaurant, Kunstgalerie, Weinlokal und Bernsteingeschäft schön hergerichtet. An der Stelle, wo früher die Johanniskirche stand, wirbt ein Schild um Spenden für den Wiederaufbau. Wäre toll, denn eine Kirche im historischen Zentrum fehlt der Stadt seit Ende des Krieges ...
Beim Packen merke ich am Gewicht, dass ich trotz aller Bemühungen doch wieder zuviel eingepackt habe. Muss heute Abend unbedingt ausmisten und überschüssigen Ballast bei Freunden in Nida lassen.
By the way: Hat schon mal jemand bemerkt, was man heutzutage alles an Ladegeräten mit sich herumschleppt? Mobil-Telefon (Handy auf Denglisch), Fotoapparat, Videocamera, und iPad für die abendlichen Notizen. Ein einheitlicher Standard per USB wäre mehr als wünschenswert, mit einem kleinen Verteiler und kurzen USB-Kabeln. Kann doch nicht so schwer sein ... So macht die Tüte mit dem Kabelwust neben den Schuhen die dickste Extraladung aus.
Nun noch kurz zur Mündung der Dange, von wo die sogenannte „kleine Fähre“ auf die Kurische Nehrung startet. Doch – ups! Ich stehe am falschen Ufer! Also flugs die Seite gewechselt und kurz darauf geht es auch schon los. Die Überfahrt dauert nur wenige Minuten.
Ich durchradele Smiltyne, das frühere Sandkrug, mehr eine lose Ansammlung historischer Häuser als ein wirkliches Dorf. Kurz darauf wechselt der Radweg von der Haff- auf die Ostseeseite und ich fahre windgeschützt hinter der Vordüne. Die wurde im 19. Jahrhundert angelegt, um die Wanderdünen vom Nachschub (Flugsand) abzugrenzen. Denn die durch Abholzung entfesselten Dünen setzten seit Jahrhunderten den Nehrungsbewohnern zu und verschütteten immer wieder ihre Dörfer.
Nach gut 20 km führt eine saftige Steigung hinauf nach Juodkrante (Schwarzort). Da ist das Mittagsbierchen doch redlich verdient. Die Bedienung freut (amüsiert?) sich über meine gestelzten Versuche einer litauischen Bestellung. Aber es klappt ;-)!
In rauschender Abfahrt (fast 50km/h auf leicht hoppeliger Piste) geht es wieder zurück auf die Radroute. Hinter Juodkrante ist die Vordüne deutlich niedriger und es bläst mir ein kräftiger Wind entgegen. Später wechselt der Weg bei Parvalka auf die Haffseite. Offiziell ist der Radweg seit einigen Tagen wegen Renovierungsarbeiten gesperrt. Ging aber trotzdem. Die Renovierung tut hier spätestens zwischen Preila und Nida wirklich Not, aber zum nächsten Frühjahr ist dann alles wieder frisch.
In Nida (Nidden) beziehe ich mein Quartier bei meinen Gastgebern A. und A. und der Abend klingt mit einigen netten Trinksprüchen aus. Wenn das man gut geht ...
Tagesstrecke: 60 km
4. Tag: Nida – Selenogradsk
Der Start in Nida verzögert sich etwas, weil einige Gäste von uns im gleichen Hotel sind, ein netter Schwatz jagt den anderen. Nun soll es aber losgehen. Da es an der Grenze keine Wechselstube mehr geben soll, flugs noch die übrigen Litas in Rubel getauscht und Wasser für die Tour besorgt.
Zuerst bietet sich noch ein Abstecher zur Hohen Düne an. Von der Ausfallstraße zur Grenze führt ein Weg dorthin und begrüßt meine noch kalten Beine mit einer saftigen Steigung. Ist ja logisch ... Ausblick gibt's nur von oben. Und der ist immer wieder toll. Man blickt über das Haff und zur Ostsee, zur Hohen Düne und nach Nida.
Nun aber los, auf zur russischen Grenze, die nach ca. drei km auftaucht. Erst litauische Ausreise, dann russische Einreise. Alles sehr unkompliziert und freundlich, hat keine 20 Minuten gedauert. Neu für mich: Radler zahlen auf der russischen Seite – wie in Litauen – keine Nationalparkgebühr.
Noch vor dem ersten Ort Morskoje (Pillkoppen) weist ein Schild in Russisch, Englisch und Deutsch den Weg zum Aussichtspunkt "Schwanensee". Der Spaziergang ist nicht ohne Mühe, aber ein Muss! Ein grandioser Ausblick auf die Hohe Düne von Süden her, auf den "Schwanensee" und natürlich auf das Haff. Und völlig einsam ...
Nächste Station ist Morskoje. Es liegt wie alle Nehrungsorte am Haff und ist über eine Zufahrtstraße zu erreichen. Beim Durchfahren entpuppt sich gleich das größte Dilemma der drei russischen Orte auf der Kurischen Nehrung: das Haff ist kaum zugänglich, ja man muss die Zugänge förmlich suchen. Was für ein Unterschied zu den Orten in Litauen, die ihre Hafflage mit Promenaden geradezu zelebrieren! Hier, auf der russischen Seite, wird sie fast verleugnet. Ein seltsamer Zustand. Entweder ist das Ufer Privatbesitz oder völlig verkrautet.
Hinter einem Zaun ist das Wohnhaus von Franz Epha zusammen mit einem kleinen Denkmal zu entdecken. Der damalige Düneninspektor stoppte durch systematische Bepflanzung die bedrohliche Wanderung der Dünen. Besonders eindrucksvoll gelang das hier im alten Pillkoppen, wo die gewaltige Düne praktisch "last minute" vor dem Ort gestoppt wurde.
Weiter geht es nach Rybatschi (Rossitten), das berühmt ist für die erste Vogelstation der Welt (1901 hier gegründet). Noch heute ist sie tätig, die Fangstation Fringilla befindet sich allerdings einige Kilometer südlich des Ortes. Die alte Kirche wird gerade restauriert und dient heute als orthodoxes Gotteshaus. Trotz der Bauarbeiten werde ich hereingebeten. Das Innere ist heute eben typisch orthodox ... aber besser orthodox als gar keine Kirche.
Gegenüber befindet sich die ehemalige Schule, ebenfalls gut in Schuss. Nach etwas Suchen finde ich sogar den Fischereihafen, denn hier befand sich eine große Fischereikolchose. Der aktive Rest sieht ein wenig traurig aus. Eine kleine Stärkung im Lokal zu deftigen Nehrungspreisen und wieder zurück auf's Rad. Zum nächsten Ort – Lesnoje (Sarkau) – sind es gut 20 km.
Übrigens ist die Nehrungsstraße hier wirklich gut befahrbar und der Verkehr überschaubar.
Beim ehemaligen Sarkau befindet sich die schmalste Stelle der Kurischen Nehrung – gut 300 m breit – und da das Haff eh zugebaut ist, gönne ich mir einen Stopp am Ostseestrand. Herrlich! Und die Brandung ist heute recht deftig.
Die restlichen Kilometer nach Selenogradsk (Cranz) sind ein Klacks und am frühen Abend rolle ich dort ein. Beim Abendessen im Hotel entpuppen sich meine nicht vorhandenen Russischkenntnisse beim Studieren der Speisekarte als hinderlich. Ich einige mich mit der Bedienung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: Borscht und Fisch (es kam Lachs).
Tagesstrecke inkl. Abstecher: 68 km
Gesamtstrecke bisher: 194,83 km. Kilometer-Stand: 1.793
5. Tag: Selenogrask – Kaliningrad
Regen! Der Tag begrüßt mich mit grauem Himmel und Regen. Egal! Da es unterwegs keine Einkehrmöglichkeiten gibt, besorge ich noch schnell ein paar Kleinigkeiten und los geht's!
Die Strecke führt zunächst nach Sosnowka (Bledau), wo eines der wenigen erhaltenen Gutshäuser des Gebietes zu finden ist. Es dient heute als Heim für behinderte Kinder. Auf ruhiger Nebenstrecke geht es richtig durch die Pampa. Versteppte Felder links und rechts, abgelegene Dörfer mit alten deutschen Häusern. Beim Anblick mancher Häuser fragt man sich, ob die Bewohner dort wohnen oder hausen ...
Unterwegs Stopp im Regen an der Burg Schaaken. Neuerdings versucht man sich hier mit kleinen – etwas unbeholfenen – Führungen und Veranstaltungen. Etwas weiter wartet in Kirche-Schaaken eine Kirchenruine in erbarmungswürdigem Zustand. Drinnen völlig verkrautet gibt es keinen Zugang. Ihre Tage dürften nach gut 700 Jahren gezählt sein. Der russische Friedhof drumherum sieht nur minimal besser aus. Einige Verstorbene "blicken" auf Müllhalden an der Kirchenmauer. Ein trostloser Ort ...
Regen und Gegenwind fördern die Vorfreude auf eine warme Dusche im Hotel. Kurz vor Neuhausen schätzt ein Transporter wohl den Gegenverkehr falsch ein und ich höre hinter mir nur noch blockierende Reifen. Augen zu und abwarten ... aber es geht noch mal gut. Der Schreck saß!
In Neuhausen gibt es eine Art Kraterlandschaft als Fußweg, sodass man von der engen und stark befahrenen Straße ausweichen kann. Zum Glück dauert es nur kurz und bald bin ich wieder auf mäßig befahrener Nebenstrecke unterwegs. Sozusagen Verschnaufpause, denn ... ca. 8 km vor Kaliningrad reiht man sich auf einer Art Autobahn ein. Die ist auf dem Seitenstreifen gut befahrbar, nur bei den Abzweigern und Einmündungen heißt es „aufgepasst“. Näher zur Stadt wird es dann aber doch abenteuerlich und ich nehme lieber die für Fußgänger gedachte hoppeldipoppel-Piste. Beschwerlich, aber irgendwie lebensbejahend.
Zum Glück bin ich mit Kaliningrad, dem alten Königsberg, inzwischen einigermaßen vertraut und so brauche ich weder den Weg zu den Kollegen im Büro von Atlas Tour zu suchen noch den ins Hotel. E. hat mich vorsichtshalber mit einer Grenzamtgenehmigung für das Grenzsperrgebiet am kommenden Tag versorgt (das machen wir für unsere Kunden natürlich immer). So erspare ich mir für den Fall der Fälle einen Ausflug nach Sibirien ;-).
Da heute Freitag ist, finden sich an den populären Punkten im Zentrum (Dom, Fischdorf) viele Hochzeitspaare ein. Immer wieder ein Anblick ...
Unterwegs noch Stopps am Laschbunker, Kantdenkmal, Hansaplatz, Gericht und Dramentheater. Mein Hotel Moskwa befindet sich im alten Gebäude der Nordstern-Versicherung, direkt gegenüber des Zoos. Nun noch eine heiße Dusche und ein leckeres Abendessen im gegenüberliegenden Selbstbedienungsrestaurant "Soljanka".
Die Hotelbar "Moskwa-Berlin" ist immer viel von jungen Leuten besucht. Gut so! Ich bin mir nur nicht so sicher, ob nun die Gäste oder die Bedienung hinter dem Tresen mehr Shisha rauchen. Aber wenigstens immer im angeregten Gespräch mit Gästen (oder Freunden?).
Tagesstrecke inkl. Abstecher: 65 km
Gesamtstrecke bisher: 260,8 km. Kilometerstand: 1.805 km
6. Tag: Kaliningrad – Mamonowo
Es erweist sich als wahres Glück, dass heute Samstag ist. So lässt sich der Stadtverkehr zügig auf der Straße meistern, ohne vom überbordenden Verkehr bedrängt zu werden. Auf der Brücke hinter dem Brandenburger Tor haut es mich kurz in den rostigen Bauzaun, weil unter dem braunen Regenwasser eine fiese Längsrille lag. Also, bei Pfützen immer aufgepasst! Man weiß nie, welche Abgründe darin lauern.
Die folgenden 11 km sind von starkem Verkehr begleitet, aber dann kehrt auf einer Nebenstrecke endlich Ruhe ein! Aaahhh ... Später fahre ich ein Stück auf der alten Reichsstraße Nr. 1, die einst von Berlin nach Königsberg führte. Die Original-Betonplatten liegen noch neben der frisch asphaltierten Straße.
Die Eindrücke in den Dörfern sind wieder zwiespältig. Sehr ärmlich und vom Verfall geprägt. Landwirtschaft findet kaum statt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Häuser in armseligen Zuständen, die obligatorische Kirchenruine und das tadellos gepflegte Kriegerdenkmal verschmelzen zu einem bedrückenden Bild. Es scheint, dass diese Menschen mitten in Europa vergessen wurden. Von ihrer Regierung sowieso.
Die Menschen blicken meist unsicher-mürrisch auf, wenn ich vorbeifahre. Spreche ich aber jemanden an, um – ganz unbeholfen – nach dem Weg zu fragen, ernte ich immer große Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft.
Apropos mürrisch: Diese Hunde! Man weiß beim Durchfahren der Dörfer nie, ob sie gelangweilt liegenbleiben oder zur Treibjagd ansetzen. Zum Glück sind es meist nur Kläffer und nur durch den ungewohnten Radfahrer verwirrt.
Auf diesen schönen Nebenstrecken braucht man übrigens nicht mit Einkehrmöglichkeiten zu rechnen. Ein kleines Geschäft für das Nötigste findet sich aber meistens in den Ortschaften. Heute ertappe ich mich bei einem sonderbaren Gefühl. Mich beschleicht in diesen armen Dörfern der Eindruck, die Menschen könnten denken, ich würde sie besichtigen. Das wäre mir unangenehm. Oder besichtigen sie mich ...?
Heute haben mich Versuch und Irrtum gut 25 km extra gekostet. Was tut man nicht alles, damit unsere Kunden eine gute Wegbeschreibung bekommen ;-). Zwischendurch führt es mich zu einer Militär-Geisterstadt. Garagen, Verwaltungsgebäude, Übungsgelände, ... alles verlassen. Leider entpuppt sich der ganze Weg dann auch als Sackgasse. Ein in dieser Einsamkeit zufällig getroffener Herr prophezeit mir Probleme, wenn ich diesen Weg weiterführe. Tatsächlich verläuft er seeeehr Grenznah. Also wieder zurück!
Den Tag hat dann eine schöne ostpreußische Allee (Piste) abgeschlossen, die mich direkt nach Mamonowo (Heiligenbeil) bringt. Ein Kunde brachte mich darauf. Drolligerweise ist sie in den Karten nicht aufgeführt. Dank an den Kunden!
Im kleinen Cafe des Hotels scheinen zwei bis drei verschiedene Feiern stattzufinden. Schön eingedeckt füllt sich langsam der Raum. Die ersten Vodka lassen die Stimmen ansteigen und an der Theke lamentieren lautstark zwei junge Männer mit der Bedienung (die ihnen anscheinend nichts geben will). Mal sehen, was noch so wird ...
Ah, die Lichter sind gelöscht, überall Kerzen auf dem Tisch (auch bei mir) und die Musik erreicht in der Lautstärke knapp Disco-Niveau. Die beiden jungen Herren konnten sich wohl doch einige Drinks erschleichen, jedenfalls ist ihr Stimmpegel inzwischen bemerkenswert und einer lallt immer "davai, davai!!".
Cool: Russendisko!
Tagesstrecke inkl. Irrtum: 97,61 km Gesamtstrecke bisher: 358,41 km. Kilometerstand: 1.902 km
7. Tag: Mamonowo – Elbing
Die Russendisko wollte mich erst nicht so recht schlafen lassen, aber es war Samstag, und was sollen die jungen Leute hier sonst tun?
Um acht Uhr soll es Frühstück geben und Punkt acht klopft es an der Zimmertür. Das Frühstück wird auf's Zimmer gebracht. Na gut, frühstücke ich eben hier. Dabei sehe ich mir im TV einen sowjetischen Nachkriegsschinken an, der in den letzten Kriegstagen spielt. Leider verstehe ich kein Wort, aber der Rahmen ist auch so klar. Sehr melancholisch, also im positiven Sinn typisch russisch. Ein paar Sowjet-Helden-Platitüden gehören natürlich dazu. Leider hat sich unser System den russischen Filmen gegenüber zugunsten von Hollywood völlig verschlossen. Schade, denke ich ...
Nun aber los! Der Pförtner des Hotelparkplatzes hatte mein Fahrrad gleich komplett in seiner Hütte aufgenommen. Sehr nett! Im Hotel gibt es ein kleines Geschäft, in dem ich noch Wasser und etwas Gebäck kaufe und dann mache mich auf den Weg zur gut 3 km entfernten Grenze. Die Aus- und Einreise hat mich ganze neun Minuten gekostet. Absoluter Rekord!! Natürlich nur mit Vordrängeln, denn mit dem Fahrrad braucht man sich nicht hinter den Autos einzureihen.
Nun rolle ich bei Sonnenschein die ersten Meter in Polen und genieße nicht nur die Sonnenstrahlen, sondern auch die Ausblicke: bestellte Felder, intakte Häuser. Man schämt sich fast es zu denken, aber irgendetwas machen die Polen besser als ihre russischen Nachbarn. Beim Durchfahren der Ortschaften und Städte verstärken sich diese Eindrücke zunehmend.
Meine erste Station: Braunsberg. Hübsches Städtchen, die Menschen strömen in die restaurierte Kirche. Es ist Sonntagmorgen. Ich hätte Lust auf einen Kaffee, aber dafür ist es wohl noch zu früh. Durch die Zeitverschiebung habe ich bei der Ausreise von Russland nach Polen ja eine Stunde geschenkt bekommen (die mir natürlich schon vorher in Kiel mit der Einschiffung auf der litauischen Fähre "verloren" ging). Jedenfalls ist noch nichts auf.
Also steuere ich auf ein tolles Highlight zu: Frauenburg (Frombork) am Frischen Haff! Die 8 km sind in Windeseile geschafft und natürlich schaue ich mir die Bischofskirche und den Kopernikusturm mit dem foucaultschen Pendel an. Vom Turm gibt es die berühmte Postkartenaussicht über Frauenburg und das Frische Haff bis zur Frischen Nehrung.
Im Café des ehemaligen Wasserturms treffe ich auf die Holländer Luk und Fred, die schon viele gemeinsame Touren auf Ihren Rennrädern gemacht haben und mit schmalem Gepäck auf dem Weg nach Masuren sind. Die beiden sind eine echte Freude und quatschen alles und jeden an. Echt erfrischend! Ich schätze die beiden mal vorsichtig auf Mitte/Ende fünfzig.
Vor dem Café wird plötzlich die Straße abgesperrt und erste Rennradler tauchen auf, sie haben hier einen Wendepunkt. Später erfahren wir von einem polnischen Radler, dass es kein Rennen, sondern eine caritative Tour von Elbing nach Frauenburg und zurück ist.
Elbing (Elblag)! Da will ich auch hin, und Luk und Fred auch. Also reihen wir uns in die organisierte Ausfahrt ein. Allerdings trennen sich unsere Wege nach gut 8 km, da die beiden den direkten Weg nach Elbing nehmen. Ich möchte aber noch den Umweg über Tolkemit und Cadinnen machen. Der Weg ist etwas beschwerlicher, aber das zeigt sich am Anfang kaum. Ich hatte bei der Fahrt mit Luk und Fred gar nicht gemerkt, wie es bergan ging. Jedenfalls rauschte ich bergab mit ordentlich Tempo über leicht hoppelige Straße nach Tolkemit am Frischen Haff ein. Schöne mittelalterliche Kirche, netter kleiner Ort, aber mich zieht es weiter nach Cadinnen. Die Fahrt dorthin ist ein schnell geschafft und ich bin wieder begeistert. Der Ort wurde 1906 durch Kaiser Wilhelm II. mit folgendem Zweck gegründet: Kaiserliches Gestüt und Sommerresidenz sowie Ansiedlung einer Ziegelei und einer Keramikmanufaktur für z.B. Kacheln (die Zierkacheln im alten Hamburger Elbtunnel kommen von hier!).
Das Schöne: Der Ort sieht aus wie vor 100 Jahren und scheint die Zeit unbeschadet überstanden zu haben. Die alte Sommerresidenz ist heute ein Country-Hotel, das angrenzende Gestüt leider nicht mehr in Betrieb. Bei meinem letzten Besuch vor vier Jahren gab es hier noch ein paar Pferde, aber nun darf man nur noch auf einen enthusiastischen und liquiden Investor hoffen (wie in Maevka (Georgenburg) im Kaliningrader Gebiet).
Die alte Keramikmanufaktur ist leider ebenfalls nicht mehr in Betrieb und im Verfall begriffen, aber sonst ist der Ort eine kleine Zeitreise.
Bei der alten Ziegelei führt ein Weg zum Strand am Frischen Haff. Hier landen gerade ein paar Paraglider. Man, haben die einen Zahn beim Landen drauf!
Die rauschende Abfahrt nach Tolmicko findet hinter Cadinnen ihre prompte Rache. Es geht saftig bergauf! Für ein Nordlicht wie mich schon eine echte Herausforderung. Bis Elbing bleibt es nun ein Auf und Ab, aber bald sind die Beine warm und es geht fast wie von selbst (hüstl ...).
Im Hotel in Elbing kurz geduscht und mit dem Rad in die Altstadt. Das Hotel müssen wir im Programm tauschen, es ist viel zu weit von der Altstadt gelegen. Und so toll ist es auch nicht, dass man dafür diese Lage schluckt.
Die Altstadt von Elbing ist der Hammer! Da die Stadt im Krieg fast dem Erdboden gleich gemacht wurde, war sie lange Zeit eher "modern". Erst in den letzten Jahren hat man quasi eine neue Altstadt (!) entstehen lassen. Das ist ganz fantastisch und ohne jeden Anflug von Kitsch gelungen. Respekt vor soviel Mut und Konsequenz!
Ich sitze nun in der Altstadt beim Abendessen und hoffe, dass ich den Weg zurück zum Hotel finde.
Unabhängig davon war das heute ein toller Tag. Besser kann Reiseradeln nicht sein! Morgen geht es nach Marienburg (Malbork).
Tagesstrecke inkl. Abstecher: 67 km
Gesamtstrecke mit Altstadt bisher: 434,30 km. Kilometerstand: 1.978 km
8. Tag: Elbing – Marienburg
Kurzfristig beschließe ich, eine Fahrt auf dem Oberlandkanal zu versuchen. Ursprünglich habe ich angenommen, dafür keine Zeit zu haben, aber ich beschließe, von der Endstation Buchwalde (Bucziyniec) direkt mit dem Rad nach Marienburg (Malbork) zu fahren.
Abfahrt ist um 8 Uhr, also früüüh aufstehen, um 7 Uhr frühstücken und ab in die Altstadt. Unterwegs noch kurz Sloty nachladen und runter zum Anleger. Den hatte ich zum Glück schon am Vorabend erkundet und muss ihn jetzt nicht erst suchen.
Ein Ticket löst man in einem kleinen Büro beim Anleger und schon geht es an Bord. Die kleinen Schiffe mit Namen wie "Pelikan" oder "Ostroda" haben oben eine Freifläche und bei schlechtem Wetter kann man sich in das geschützte Unterdeck begeben. Ich schätze das Platzangebot mal auf etwa 40 Personen.
Ach so! Wetter war übrigens blendend. Also Freideck ...
Zunächst geht es von Elbing auf den langgestreckten Druzno-See. Es dauert eine Weile, bis die erste der berühmten geneigten Ebenen erscheint. Hier fährt das Schiff in eine Art Gestell, mit dem es samt Passagieren aus dem Wasser und auf Schienen einen Hügel hinaufgezogen wird, um dann gut 20 Meter weiter oben wieder ins Wasser zu gleiten. Dies passiert so oft, bis gut 100 Höhenmeter überwunden sind. Das eigentlich Sensationelle: Diese Technik funktioniert mit Wasserkraft und ist gut 150 Jahre alt! (kleine hässliche Anmerkung am Rande: deutsche Technik natürlich ... ;-)
Unterwegs gibt es interessante Gespräche mit einem australischen Ehepaar, das auf Spurensuche seiner Vorfahren in Ostpreußen ist. Außerdem mit einem drolligen älteren Herrn aus Köln (Original-Millowitsch-Akzent), der mit Frau und Wohnmobil unterwegs ist. Sehr nett ist auch ein polnisches Ehepaar aus Danzig, das mit dem Motorrad unterwegs ist. Er etwas bullig, in Club-Kutte und mit Leder-Mütze, aber gutem Deutsch und viel trockenem Humor!
Bei den ersten beiden geneigten Ebenen ist die Drängelei um die besten Plätze für Film und Fotos groß, was sich später aber entspannt. Einmal müssen wir eine Ebene sogar zu Fuß erklimmen und in ein anderes Boot umsteigen, da genau diese Ebene technisch defekt ist.
Insgesamt ein tolles Erlebnis, das gut fünf Stunden dauert!! Die Zeit vergeht aber wie im Fluge.
In Buchwalde gehen wir dann von Bord und unserer Wege. Die meisten fahren mit dem Bus zurück nach Elbing. Und ich darf nun einen netten Weg nach Marienburg finden. Machen wir's kurz: Es gelingt nicht. Tolle Gegend, einsame Dörfer, aber lausige Straßenbeläge an der Grenze der Zumutbarkeit. Hoppeldipoppel-Asphalt wechselt mit Schmusedecke und dann umso schlimmerem Kopfsteinpflaster, das höchstens durch schmale Sandstreifen am Rande befahrbar wird. Eine echte Probe für Mensch (das war ich) und Material (Fahrrad und Taschen). Ohren, Augen und Nase müssen mir vom Gerüttel irgendwie verrutscht sein. Bei meiner Ankunft in Malbork muss ich mich erst einmal schütteln und zurechtrücken. Es bleibt also für's Programm erst einmal bei der bewährten Variante von Elbing nach Marienburg. Nun gut ...
Weil ich von den eigentlich lächerlichen 50 km völlig erschlagen bin, esse ich heute im Hotel. Ziemlich grell erleuchtetes, modernes Restaurant und blutjunge, schüchtern-kichernde Kellnerinnen. Drollig ... und irgendwie niedlich. Über den etwas holprigen Service ereifern sich nur Griesgrame.
Die Marienburg muss übrigens bis morgen warten. Bin echt platt ...
Tagesstrecke: 52,38 km
Gesamtstrecke bisher: 487,13 km. Kilometerstand: 2.041 km
9. Tag: Marienburg – Danzig
Als erste Tat nach dem Frühstück steuere ich einmal die Tourist-Information von Marienburg an. Ich hoffe, dass es Routenpläne für die Radrouten gibt, die mir in loser Folge als Hinweise begegnen. Leider Fehlanzeige, es gibt wohl nichts dazu, oder die Mitarbeiterin weiß es vielleicht nicht. Oder es sind andere Zuständigkeiten, Regionen, oder, oder ...
So, nun also die Marienburg! Da wollte ich schon immer mal hin und der größte Backsteinbau Europas sieht wirklich schon von außen imposant aus. Da werde ich wohl ein wenig Zeit brauchen.
Natürlich komme ich nicht zur Kasse, ohne vorher wieder andere Reisende kennenzulernen. Ein älteres Ehepaar ist auf Spurensuche ihrer Vorfahren und drei Brüder mittleren Alters ebenso. Und alle scheinen ihren Aufenthalt sehr zu genießen. Dass ich meine Reise mit dem Rad mache, sorgt immer für Gesprächsstoff. Dabei finde ich das gar nicht so besonders ...
Praktischerweise gibt es zur Eintrittskarte einen sehr gut nutzbaren Audioguide in Form eines iPod-touch. Der spult nicht einfach sein Programm ab, egal wo ich gerade bin, sondern ich kann die passende Stelle immer selbst aktivieren. Sehr angenehm.
Ich spare mir jetzt Details, aber die Zeit reicht nicht aus. Kurz vor „wunde Füße“ habe ich gerade mal die gute Hälfte der Anlage geschafft. Ich muss also noch einmal wiederkommen. Ich habe nicht auf die Uhr gesehen, aber ich glaube drei Stunden bin ich bestimmt dort. Und wieder muss ich den visionären Polen Respekt zollen. Dass die Marienburg 1945 so stark zerstört wurde, war mir nicht bewusst. So wie die aussah, hätten sie sie auch glatt abreißen können. Aber sie haben sie meisterlich wieder aufgebaut. Das erscheint uns heute logisch und naheliegend, aber direkt nach dem Krieg? Ein solches Bauwerk? Das zuletzt immer wieder als nationalistisches Symbol des Deutschtums missbraucht wurde? Und der Aufwand, und die Kosten ...
Heute bekommen die Polen ihren Weitblick durch die zahllosen Besucher in barer Münze belohnt.
Direkt an der Burg noch eine kleine Stärkung und ... schon wieder eine nette Plauderei mit einem älteren Herrn, der 1943 als Sechsjähriger in den vermeintlich sicheren Osten zu seinem Onkel geschickt wurde. Auch er also auf einer Art Spurensuche. Und meine Güte, was haben diese Menschen alles erleben müssen. Die Flucht aus dem sicheren Osten war dann wohl auf dem letzten Drücker.
Ups! Es ist schon 14.30 Uhr als ich endlich starte. Aber es sind ja nur rund 60 Kilometer nach Danzig. In Dirschau (Tschew) deute ich unsere eigene Beschreibung falsch und verfranse mich tüchtig. Am Ende bemerke ich meinen Fehler und alles ist gut. Kostet mich aber bestimmt 45 Minuten. Die Beschreibung kann ich jetzt so verbessern, dass sogar ich sie begreife.
Die nächsten Kilometer nehme ich im Flug! Tolle Straßen, Rückenwind, 25 bis 30 km/h gehen locker. Wenn nur diese blöden Kopfschmerzen nicht wären. Die fange ich mir bei warmem, etwas diesigem Wetter gerne mal ein, wenn ich den ganzen Tag an der Luft bin.
Wäre ja auch nicht so schlimm, wenn dann die letzten gefühlten 300 Kilometer (also ca. 20) nicht über einen Betonplattenweg führen würden. Eigentlich ein schöner Weg, weitgehend an der Mottlau entlang. Aber jede Fuge martert sich in meinen Schädel und so habe ich da keinen rechten Blick für. Auch die üblichen Kläffer auf den Höfen ernten von mir nur noch ein "Halt's Maul!", statt ihnen mit der nötigen Furcht zu begegnen. Zur besonderen Garnierung wandelt sich die Strecke in den Vororten Danzigs zu einer Kopfsteinpflaster-Piste, gegen die Paris-Roubaix Kindergeburtstag ist. Zu meinem großen Erstaunen erreiche ich Danzig trotz der gut 50 Kilometer dennoch nach nur etwas über zwei Stunden.
Zum Abschluss habe ich ein schönes Hotel direkt in der Altstadt gebucht. Mein Zimmer ist sehr schön und ich nehme ein herrliches Bad.
Jetzt vernasche ich in der Altstadt von Danzig gerade einen leckeren Nachtisch. Apropos Altstadt. Ich hatte es fast vergessen, aber Danzig ist ein Hammer! Und wieder Dankbarkeit und Respekt an die Polen, dass sie die Stadt gleich nach dem Krieg wieder so hergerichtet haben. Es hätte auch leicht ein zweites Kaliningrad werden können.
Morgen habe ich noch einen Termin in einem Hotel und am Nachmittag geht es mit dem Rad noch gut 20 km nach Gdingen (Gdynia) zur Fähre. Will mal sehen, ob es da einen schöneren Weg als die Hauptstraße gibt. Da Danzig, Zopot und Gdingen die sogenannte "Dreistadt" bilden, wäre das durchgehend nerviger Stadtverkehr. Na, mal sehen ...
Tagesstrecke: 73,09 km Gesamtstrecke bisher: 560,22 km. Kilometerstand: 2.114 km
10. Tag: Danzig – Gdingen / Einschiffung
In der Nacht hat es angefangen zu regnen, und so ist es auch beim leckeren Frühstück im Hotel. Kurz gepackt, das Gepäck im Hotel deponiert und los geht es zu meiner Verabredung im Hotel Gdansk. Mit der Kollegin vom Marketing habe ich seit einigen Jahren (beruflichen) Kontakt und heute lerne ich sie auch einmal kennen. Dabei zeigt sie mir natürlich auch gleich das sehr schöne Hotel. Wenn ich alles richtig verstanden habe, kann man mit der Wundermaschine im Med-SPA umgehend jung und schön werden. Oder so ähnlich. Leider fehlt mir zum Selbstexperiment die Zeit.
Natürlich muss ich mir noch die Marienkirche ansehen, sie ist immerhin die größte Backsteinkirche der Welt. 25.000 Menschen sollen dort Platz finden können. Das Innere kommt mir dann aber ehrlich gesagt etwas arg spartanisch daher. Alles Weiß und wenig Schmuck. Wie nach einem calvinistischen Bildersturm (naja, das stimmt natürlich nicht ganz ...). Die mittelalterliche Kalenderuhr ist auf jeden Fall großartig! Ein paar Epitaphe, der Altar und nur wenig mehr ...
Jetzt noch schnell die Sachen aus dem Hotel holen und rauf auf's Rad Nach Gdingen sollen es ja zur Fähre noch gut 20 km sein. In der Touristeninformation bekomme ich einen Hinweis, wie ich den Stadtverkehr weitgehend meiden kann.
Und tatsächlich! Zunächst geht es eine Weile auf einem Super-Radweg entlang der Hauptstraße nach Zoppot (Sopot)/Gdingen (Gdynia) und dann führt ebenfalls ein guter Radweg zur Küste. Und hier läuft tatsächlich ein so breiter und toller Radweg direkt an der Küste entlang, wie ich ihn in Deutschland noch nicht gesehen habe. Damit sollte ich prima bis Gdingen kommen.
Zoppot gefällt mir besonders gut; Villen, schöne Hotels, und alles nur wenige Schritte vom Strand. In einem einfachen Strandlokal spricht der Besitzer wunderbar Englisch und war auch schon zu Besuch bei einem Freund in Hamburg (als wir so einen extremen Winter hatten). Es gibt wirklich leckeren Kabeljau, obwohl es eher nach fettiger Frittenbude aussieht. Nach Gdingen seien es auf dem Radweg nur noch gut 15 Minuten. Na denn! Dann kann ich meinen Fisch ja in Ruhe verspeisen. Ein paar nette Worte zum Abschied und weiter geht es auf dem herrlichen Radweg zwischen Villen, Wald und Strand.
Plötzlich endet der Radweg am Strand. Ich muss wohl einen Abzweig übersehen haben und will schon umkehren, als eine Frau auf dem Rad genau in diese Richtung fährt. Irgendwo wird die ja hinwollen. Ich hinterher und sehe, dass sie ihr Rad am Ende des Radweges den steilen Berg hinaufschiebt. Ich wieder hinterher. Der Weg erinnert mich an abgelegenste Pfade durch das Alstertal und ich bin froh, dass sie vorweg fährt/schiebt. Sonst wäre ich hier auf verlorenem Posten.
Wir kommen ins Gespräch und ich erfahre, dass sie Verwandte in Hamburg hatte und dort auch ein Jahr verbrachte. Sie ist studierte Künstlerin und malt z.B. Murials (Hauswandgemälde). Sie fährt immer nur mit dem Rad und ich bin nun heilfroh sie gefunden zu haben, denn der eingeschlagene Weg entpuppt sich als nicht so einfach. So führt sie mich glücklicherweise im raschen Fußgängerslalom bis zum Hafen (zu dem sie sich selbst ebenso durchfragen muss), obwohl das gar nicht auf ihrem Weg ist. Bin extrem dankbar!!!
Eigentlich viel zu spät, aber doch gerade noch rechtzeitig, komme ich als letzter Passagier zum Fährhafen. Der Check-in-Mitarbeiter bietet mir an, mich per Auto zum Schiff zu lotsen, da ich eh der letzte Passagier sei. Das nehme ich im wirren Hafen von Gdingen (Gdynia) gerne an. Da man sich ja keine Blöße geben will, fahre ich recht zackig hinter ihm her, weshalb er natürlich seinerseits das Tempo erhöht. Am Ende der kurzen Fahrt gebe ich mich zum Abschied selbstredend betont locker und entspannt, brauche aber dringend eine Dusche ...
Tja, nun geht es zurück nach Deutschland. Morgen früh bin ich in Rostock.
Jetzt zum Abschluss noch ein leckeres Abendessen und ein Bierchen!
Tagestrecke: 29,69 km Gesamtstrecke bisher: 590,18 km. Kilometerstand: 2.144 km
11. Tag: Rostock – Hamburg
Da die Finnlines-Fähre bereits um 7 Uhr in Rostock ankommt, heißt es, früh aufstehen, damit zum Frühstück alles gepackt ist.
Als es dann endlich los geht, treffe ich an Deck noch zwei junge Radlerinnen, die aus Finnland zurückkommen (die Fähre fährt Helsinki – Gdingen (Gdynia) – Rostock) und eine von ihnen muss nun schnell zum Bahnhof, weil ihr Zug nach Düsseldorf bereits gegen 8.30 Uhr geht. Leider wissen wir alle nur, dass es gut 14 km zum Bahnhof sind, aber wie genau man dorthin kommt ...? Von einer Fahrt in umgekehrter Richtung vor zehn Jahren weiß ich nur noch, dass es nicht soooo schwer war, aber vielleicht ist der Weg inzwischen ja auch ausgeschildert. Ein weiterer Radfahrer mit dem gleichen Ziel ist ebenfalls nicht schlauer. Und drollig; erst jetzt erkenne ich ihn (bzw. er mich) wieder: Wir hatten uns bereits in Klaipeda getroffen, als wir gemeinsam von der Fähre rollten. Er wollte ebenfalls nach Danzig, dass er aber mit der gleichen Fähre zurückfährt, war ein unerwarteter Zufall. Wir sind uns auf der ganzen Fahrt nicht ein einziges Mal begegnet.
Und tatsächlich, die Fahrt zum Rostocker Hauptbahnhof gibt dank Ausschilderung nur wenige Rätsel auf. Mit den beiden Radlerinnen (Christin und Annika) fahre ich gemeinsam zum Bahnhof, während uns der vierte Radler schon im Hafengebiet verschütt geht.
Von Christin erfahre ich, dass sie ihren Job (ein Projekt für Umweltschutz) gekündigt hat und vor zwei Monaten in Bremen auf ihre Radtour durch Dänemark, Schweden und Finnland gestartet ist. Ihre Freundin Annika ist erst vor zwei Wochen in Stockholm dazugestoßen. Während der langen Tour wollte Christin sich ihre Zukunftspläne überlegen. Tatsächlich hat sie kaum darüber nachgedacht (was wahrscheinlich viel besser war, eine Art "Gehirnwäsche").
So, nun bin ICH aber viel zu früh am Bahnhof! Weil ich mir Stress ersparen wollte, geht mein Zug erst in zwei Stunden. Der Rostocker Hauptbahnhof liegt außerhalb des Zentrums, am Rande der Stadt. Ein Bummel bietet sich also nicht direkt an. Vielleicht kann ich ja mit meinem Ticket einen früheren Zug nutzen? Bei der Auskunft wird mir von zwei DB-Damen in Uniform Ungemach gewahrschaut, falls ich mein zugbezogenes Ticket umbuchen wolle. Ohne konkrete Zahlen zu nennen, werden mir "Kosten" prophezeit. Ich übe mutig Bahnkunden-Ungehorsam und nehme trotzdem den früheren Zug, was dann auch problemlos klappt. Keine Verdammnis, keine Gebühren, kein neues Ticket! Noch mal davon gekommen ...
Den Zug nach Hamburg nehme ich zusammen mit Annika und dem vierten Radfahrer, den wir im Bahnhof wiedertreffen. Auf dem Weg mit dem Fahrstuhl zum Bahnsteig geht er aber bereits wieder verloren, sodass ich mit Annika alleine im Zug sitze. Sie studiert in Wien Umweltpädagogik. Was es alles gibt ... Sie versucht also Mitmenschen Umweltbelange zu vermitteln und geht auch mit (Stadt-)Kindern in Waldcamps, um den Kindern elementare Dinge des Lebens nahezubringen, wie z.B. Wasser besorgen, Feuer machen, draußen schlafen. Die Fahrt war so sehr kurzweilig und unsere Wege trennen sich am Dammtorbahnhof. Nun geht nur noch nach Hause :-)!
Bin zum Schluss übrigens froh, dass mein Rad noch hielt. Manchmal trat ich beim Anfahren ins Leere (für Fachleute: Das Fett im Freilauf ist verharzt und verklebt die Sperrklinken). Auf der Fahrt wurde es immer schlimmer und gestern in Danzig dachte ich noch, das wird jetzt nichts mehr. Ging dann aber doch noch, fährt sich aber nicht so lustig. In Elbing bescherte mir dies vor verdutztem Publikum einen peinlichen Umfaller, als bei ganz langsamer Fahrt auf einmal der Vortrieb ausblieb. Ein dringender Fall für die Reparatur!