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Reisebericht: Vom Zauber der Kurischen Nehrung

geschrieben von Bernd Schiller, Reisejournalist in Hamburg (2015)

Ein halber Tag nur - und was für Ausblicke: von den spektakulärsten Dünen Europas auf eine archaische Landschaft und ein türkis schimmerndes Meer, aus dem Arbeitszimmer eines Nobelpreisträgers in eine märchenhafte Wildnis, von einem Hochsitz auf tausend gefräßige Kormorane...und was für Begegnungen: mit Fischern, Bernsteinsuchern und einem Pastor aus der Lutherstadt Wittenberg, der von einem wahren Wunder erzählt.

Landgang in Klaipeda / Litauen

In der Nacht hatten wir die Uhren eine Stunde vorstellen müssen. Wir waren mit einem Kreuzfahrtschiff nach Klaipeda gekommen und wussten an diesem Morgen noch nicht, dass wir schon bald das Gefühl haben würden, die Zeit sei zwar nicht stehen geblieben, aber doch keineswegs nach vorn, sondern viel mehr um Jahrzehnte zurückversetzt. Für die meisten Passagiere auf unserem Musikdampfer war Klaipeida in Litauen ein Hafen von zwölfen auf der Runde ums Baltische Meer, gestern in Danzig, morgen in Tallinn, übermorgen in Helsinki.

Klaipeda, das alte Memel, davon hatten die Älteren gehört, vielleicht sogar vom Ännchen von Tharau, die an einem Brunnen im Zentrum dieser alten kurländischen Stadt ihr Denkmal bekommen hatte und, früher öfter als heute, besungen wurde wie kein anderes schönes Ostpreussen-Kind, „...sie ist mein Leben, mein Gut und mein Geld...“

Um kurz nach sechs war der litauische Lotse an Bord gekommen, um sieben waren die Leinen festgemacht, um halb acht stand R. D. mit seinem Auto am Kai, ein blonder Recke, langjährig bewährter und beliebter Schnieder-Reiseleiter, stolzer Litauer der ebenso gut Skandinavier hätte sein können, ein Wikingertyp. Wir hatten ihn vorab gebucht, nur für uns, die kleine Gruppe Schiller, Ingrid und Bernd. Aus gleich mehreren Gründen wollten wir nicht mit dem Bus und den Mitreisenden in großer Gruppe die Stadt und die Kurische Nehrung erkunden. Wir wollten uns dort ein bisschen von der knappen Zeit sichern, wo wir sehr persönliche Interessen hatten. Davon werden noch erzählen müssen.

Die Zeit war wirklich arg bemessen, um drei Uhr am Nachmittag würde die „Amadea“, das neue Traumschiff aus der alten ZDF-Serie, schon wieder die Anker lichten, Kurs Nordost. 

Mit der Fähre in die Vergangenheit

Klaipeda, erster Eindruck: ein moderner Containerhafen, riesige Öltanks - ein Großteil des russischen Erdöls geht von hier aus nach Westen, ein großer Terminal für die DFDS-Fähre aus Kiel, die hier sechs Mal in der Woche anlegt. Gesichtslose Neubauten, sanierte Platten wie überall im Osten, aber eingerahmt von Birken und Kiefern. Und, durchatmen an diesem frühen Sommermorgen: Ostseeluft, klar und vertraut aus Bornholm, aus den Ferien in Schweden und an der finnischen Südwestküste.

R. schlägt vor, zuerst auf die Nehrung zu fahren, danach durch Klaipeda zu bummeln und das Haus zu suchen, in dem Ingrids Eltern bis zur Flucht 1945 gewohnt haben. Wir hatten nur eine unvollständige Adresse und die vage Beschreibung einer 90jährigen Tante, die damals die Nachbarin der längst verstorbenen Schwiegereltern war.

Also ab zur Autofähre, die aus dem Alten Burghafen (Senoji perkela) nach Smiltyne, das einmal Sandkrug hieß, hinüber tuckert. Keine fünf Minuten dauert diese Reise über das brackige Binnengewässer, das einst Haff genannt wurde und vergleichbar ist mit den Boddengewässern in Mecklenburg-Vorpommern, auf Rügen und am Darß. An Bord Campmobile, Urlauber-Kombis, Handwerker-Fahrzeuge, viele Radwanderer mit dicken Gepäcktaschen. In Sandkrug, bleiben wir mal bei den alten deutschen Namen - niemand in Litauen stört sich daran, Freund R. am allerwenigsten - verzichten wir aus Zeitgründen auf den Besuch des Nationalpark-Infozentrums. R., Naturliebhaber und Kenner von Flora und Fauna, weiß, dass seine deutschen Gäste oft auf der Suche nach einer Vergangenheit sind, jeder nach einer anderen. Und er weiß, dass die litauischen Begriffe nicht so leicht über die Lippen gehen. Sie gilt als die älteste aller noch lebendigen indogermanischen Sprachen, ist aber mit keinem anderen gängigen Idiom verwandt, lässt sich also so gut wie nie ableiten, nicht aus dem Griechischen, nicht aus dem Lateinischen oder aus dem Germanischen. Und schon gar nicht aus dem Slawischen... um Gottes Willen, sagt R., damit haben wir nichts gemeinsam. Und er meint das wohl nicht nur in linguistischer Hinsicht.

Wasser, Wind und Sand

Erster Blick von der Hangeno-Düne, knapp 35 Meter hoch, auf die See, auf den Wald, auf eine märchenhafte, unwirklich schöne Landschaft, die etwas Archaisches in sich birgt, Großartiges und Trauriges, „ein Land wie von Urbeginn, aus jener Ewigkeit, da Gott das Wasser an besonderen Orten sammelte, dass man das Trockene sehe...“ So liest es sich im Buch „Alles ist weglos“ von Thomas Sprecher, dem vielfachen Thomas-Mann-Biografen. Wir waren auf Naturwunder vorbereitet, stehen aber jetzt stumm auf der Düne und lassen den Zauber dieses Landstrichs auf uns wirken. Wilhelm von Humboldt hat schon davon geschwärmt, später so viele Maler und andere Künstler angezogen. Lovis Corinth, Max Pechstein, Karl Schmidt-Rottluff. Sie alle stiegen in Hermann Blodes Gasthof in Nidden ab, dem bekanntesten Ort auf der Nehrung, der bis in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts als Worpswede des Ostens berühmt war. R., der Naturfreund, ist auch Kunstliebhaber, ein Kenner der Kolonie, die sich in und um Blodes Gasthof entwickelte. Er erzählt Anekdoten und Geschichten, einige fröhliche, viele wehmütige, aus einer Zeit, die nicht zuletzt durch das Haus, das Thomas Mann sich dort bauen ließ, bis in unsere Tage Bestand haben 

Frischer Fisch und alte Wetterfahnen

Eine Straße führt durch den schmalen Schlauch, der die Nehrung bildet, von Sandkrug etwas über 50 Kilometer nach Süden, bis nach Nida, das einmal Nidden hieß, „mein Nidden“, wie Frido Mann seine buchstäbliche Reise in die Vergangenheit seiner Familie genannt hat. Tiefer, dunkelgrüner Wald geht immer wieder in sandige Höhen über, die zu den Dünen führen. Verwehungen erzählen von der Entstehung dieser einmaligen Landschaft. R. erzählt die geologisch-geschichtliche Version, von Rodungen im 16. Jahrhundert, die den Sand in Bewegung brachten. Und er erzählt augenzwinkernd die Legende von Mütterchen Neringa, einer Riesin in grauer Vorzeit, die den Sand aus ihrer Schürze rieseln ließ, um den Fischern geschützte Häfen zu bieten.

Auf vielen Häusern und an Wegweisern leuchten wieder, wie in alten Zeiten, die Kurenkähne, symbolische Wetterfahnen, heute ein beliebtes Souvenir, geschnitzt von pensionierten Fischern und anderen alten Männern. Und immer wieder fallen uns auch Schilder an geduckten Katen auf, die „Zuvis“ anbieten, Räucherfisch, wahrscheinlich heute morgen angelandet und gleich in den Ofen gehangen. Wir probieren die Spezialität der Nehrung und kommen mit J. in ein kurzes Gespräch. Er ist einer von nur noch fünf Fischern in der Nähe von Schwarzort, die hauptberuflich jeden Morgen auf die Ostsee fahren. Ein bisschen Hoffnung hat er, dass die Zeiten besser werden könnten, weil immer mehr Touristen aus dem Westen, aus Deutschland vor allem, die nostalgische Stimmung für einen Urlaub in aller Ruhe nutzen. Sie sind, so sagt er lachend, seine liebsten Kunden, sie wissen seine frische Ware zu schätzen, Zander, Flunder, Dorsch.

Der Kampf um die Kormorane

R. stoppt sein Auto vor einer Waldlichtung. Wir klettern erst eine grün überwucherte Düne hoch, dann auf eine Art Hochstand, ein Gerüst. das Aus- und Überblick erlaubt auf eine große Kormoran-Kolonie. Die gefräßigen Vögel, sagt R. mit leicht säuerlichem Unterton, werden von den Naturschützern aus Memel und aus dem ganzen Land gepäppelt. Es ist der alte Zwiespalt, der alte Kampf: Soll man der Natur ihren lauf lassen, den Kormoranen ihren Fraß gönnen, täglich bis zu 500 Gramm Fisch pro Vogel ? Oder darf, nein, muss man nicht viel mehr an die Fischer denken, dem die schwarzgefiederten Konkurrenten das Brot wegfuttern, ja, seine Existenz bedrohe. Mehr als tausend Kormorane nisten auf den hohen Bäumen zwischen See und Haff, das bedeutet mindestens 500 Kilogramm Fisch weniger in den Netzen, jeden Tag. R. ist ein ruhiger Vertreter, besonnen und ausgleichend. Aber der Schutz der Kormorane, die sich noch dazu ungehemmt vermehren, geht ihm, dem Naturliebhaber, zu weit. 

Geschichte im Zickzack

Knapp hundert Kilometer ist sie lang, die Kurische Nehrung, an der breitesten Stelle, ein paar Kilometer nördlich von Nidden, misst sie gerade mal 3800 Meter. Und doch ist diese schmale Zunge zwischen Meer und Haff nicht nur ein Wunder der Natur, sondern auch ein Stück Land, dessen Geschichte die des Baltikums spiegelt. Im Zickzack ist sie verlaufen, baltische Kleinvölker wie die Zemaiten und Semben haben hier vor tausenden von Jahren gesiedelt, Stämme, die niemand mehr kennt. Der Deutsche Orden, die alten Rittersleut, haben eine Heerstraße von Königsberg nach Norden, ins alte Livland, über die Nehrung geführt. Und sie bleiben die Deutschen, machten den schmalen Streifen urbar, siedelten sich als Bauern an und vertrugen sich mit den Kuren, den Ureinwohnern, die der Region den Namen liehen, und seit eh und je die Fischer stellten. Ihre Orte, Smyltine, Juodkranté, Pervalka, künden von dieser Zeit, Dörfer, die noch immer verschlafen wirken, wie aus der Zeit gefallen. Später wurde die Kurische Nehrung ein Teil des Deutschen Reichs, Ostpreußen bis 1919, danach gehörte sie zum Memelland, Mandatsgebiet des Völkerbunds, noch später von Litauen verwaltet, von der Sowjetunion und wieder von Litauen.

Deutsche Spuren sind vielerorts zu finden, die Zerrissenheit noch immer nicht überwunden, denn der südliche Teil der Nehrung, gleich unterhalb von Nida oder Nidden, gehört zu Russland, zur Exklave Kaliningrad. R. erzählt die Vergangenheit und die Gegebenheiten von heute spannend, sachlich, ohne Bitterkeit. Aber wie überall im Baltikum ist in diesen Tagen, nach der Krim-Besetzung, mitten in der Ukrainer-Krise etwas Besorgnis herauszuhören: Wie weit wird Putin gehen ? Wie loyal stehen die Russen, zum Land, in dem sie große Minderheiten stellen, wie in allen drei baltischen Staaten?

Onkel Toms Hütte und der Italienblick

Nida, das alte Nidden, ist ein wenig teurer als Juodkrante, das stille, ehemalige Fischerdorf Schwarzort. Aber mondän ist auch Nida nicht, eher eine Sommerfrische im alten Stil. Wenn die Busse, die das Haus von Thomas Mann zum Ziel haben, „Onkel Toms Hütte“, wie der Enkel Frido das traumhaft gelegene Holzhaus über dem Meer nennt, wenn diese Busse ihre Gäste wieder eingesammelt haben, versinkt auch Nida wieder in einen Dornröschenschlaf, in dem sich`s gut vom alten Nidden träumen lässt.

Das Thomas-Mann-Haus, heute Kulturzentrum, Museum, ein Ort der Begegnung. Drei Sommer lang, von 1930 bis 1932, hat er hier mit seiner Familie Ferien gemacht, die Ruhe genossen: „Wir fuhren also für einige Tage nach Nidden auf die Kurische Nehrung und waren so erfüllt von der Landschaft, dass wir beschlossen, dort Hütten zu bauen, wie es in der Bibel heißt...“

Später Vormittag, die Busse mit den Gruppen-Ausflüglern, sind wieder abgefahren. Ganz allein bin ich auf einmal im Arbeitszimmer des Nobelpreisträgers, schaue über seinen Schreibtisch und übers Grün hinweg auf das glitzernde Wasser des Haffs und die Dächer des Ortsteils Purwin. Er hat diese Aussicht den Italien-Blick genannt. In der Tat: Erinnerungen an die Amalfi-Küste, Vergleiche mit Sorrent kommen in den Sinn. Hier hat der Meister geschrieben, an der Trilogie „Joseph und seine Brüder“ zum Beispiel, viele Artikel und Briefe. Ein solcher Blick aus dem Arbeitszimmer ist, vor allem, wenn man Thomas-Mann-Freund ist, auch eine Art Rück-Blick, von dem man sich nicht leicht lösen kann. 

Der Friedhof, die alte Kirche und der Ferienpastor

Ein paar hundert Meter nach Süden, die alte Evangelische Kirche auf einem Hügel, daneben der Friedhof, der Kirchhof, wie die Deutschen ihn früher genannt haben. Gepflegt ist er, Geschichte und Geschichten erzählen die Grabsteine. Solche zum Beispiel: „Als wir mit des Haffes Wellen kämpften, wo Menschenhand vergeblich war, wo nichts zu seh`n war als der Tod, riefen wir den Herrn in unsrer Not...“. Während wir noch sinnend von einem Kreuz zum anderen laufen, macht uns R. aufmerksam, dass in der Kirche gerade der deutsche Ferienpastor allein sei, vielleicht also Zeit für ein Gespräch habe...

Zum wiederholten Mal sind Dr. U. und seine Frau als evangelische Seelsorger für ein paar Sommerwochen vor Ort, für die Handvoll einheimischer Protestanten, Nachfahren der Deutschen, die nach dem Krieg geblieben sind, für die wachsende Schar von Urlaubern, die, glücklicher als wir, nicht nur für ein paar Stunden gekommen sind. Dr. U., ansonsten in der Lutherstadt Wittenberg zu Hause, erzählt von M. S. einem Pastor aus der Lüneburger Heide: Als Kind, 1945, war der letzter Täufling in dieser Kirche, bevor die Familie flüchten musste. Und in diesem Jahr, 2015, hat Pastor S. im Mai als erster Geistlicher den Reigen der Ferienpastoren eröffnet, die sich jedes Jahr in Nida/Nidden abwechseln, was für eine schöne, was für eine berührende Geschichte.

Vom Winde verweht: Dünen und die Geschichte

Natürlich müssen wir auf die Parnidden-Düne klettern, 50 Meter hoch. Blick nach Westen über Sand und Meer, nach Süden bis in den russischen Teil der Nehrung hinein. Am Fuße dieses Naturwunders am Rande von Nida treffen wir den alten R., Bernsteinsammler von Beruf. R. ist ein häufiger Vorname in Litauen. Und nun übersetzt „unser“ R. das Gespräch. Ja, sagt der Alte, es gebe noch wie vor genug gelbes Gold, hier und anderswo an der Ostsee. Vor allem, wenn die Frühjahrs- und die Herbststürme abgeflaut sind, lassen sich die Tränen der Götter, wie sie seit altersher gern genannt werden, nahezu mühelos finden. Längst hat Bernsteinschmuck sein altmodisches Image, wenn es denn je da war, verloren. R. bestätigt, dass immer mehr junge Frauen Halsketten oder oder Solitäre aus Bernstein trafen. Und dann zieht er auf einmal ein Armband aus der Tasche, milchig-gelb, dezent, wunderschön. Ingrid gefällt es, wir kaufen es, weil es uns spontan gefällt, aber auch aus sentimentalen Gründen.

Spurensuche in Memel

Zwei Stunden bleiben uns noch in Klaipeda, für uns Memel. Natürlich gehört der Gang zum Simon-Dach-Brunnen, zum Ännchen von Tharau zum nostalgischen Pflichtprogramm. Dort treffen wir ein paar Dutzend Pasagiere unseres Schiffes, kräftig stimmen sie in das alte Lied von der Pfarrerstochter ein, die der Dichter und Musikus Simon Dach um 1637 so sehr und so unglücklich geliebt hat.

Altstadt, niedrige Häuser, gepflasterte Gassen, ein nettes, liebenswertes Städtchen. Ein Markt, wo die dicksten Blaubeeren, die ich je gesehen habe, verkauft werden, von Mütterchen mit Kopftuch, die auch Pilze anbieten in Mengen, wie es sie bei uns kaum gibt. Und wir finden das Haus in der Großen Wasserstraße, im Gewölbe darunter hat sich eine Gastwirtschaft etabliert. R. stellt uns dem Wirt vor und erklärt den Grund unseres Besuches. Wir werden freundlich aufgefordert, alles anzusehen und gern auch zu fotografieren.

15 Uhr, im Hafen von Klaipeda. Die Gangway wird hochgezogen, vom Band erklingt die Traumschiff-Melodie. Gut hundert Passagiere stehen an der Reling und winken zu den Hafenarbeitern am Kai hinüber. Ein alter Herr, den wir am Ännchen-Denkmal gesehen und singen gehört haben, schaut versunken in die Richtung, wo er die Nehrung und Nidden vermutet, „...man müsste mal wieder Thomas Mann lesen“, sagt er zum Abschied von Memel.